STANDARD-Korrespondentin Birgit Baumann über Angela Merkel, ihre 15-jährige Amtszeit, ihre Erfolge, ihr Scheitern und über die Zukunft der Kanzlerin. Ausgewählt hat die Fragen aus dem STANDARD-Foren zu Angela Merkels 15-jähriger Kanzlerschaft in 15 Bildern Judith Wohlgemuth.

Das Markenzeichen der Kanzlerin: die Merkel-Raute.
Foto: APA/dpa/Michael Kappeler

Frage: Im Forum zu 15 Jahre Merkel waren die Userinnen und User sehr gespalten, was die Politikerin Angela Merkel angeht. Entweder sehen sie die Kanzlerin als Totengräberin Europas, oder sie wird als Ausnahmepolitikerin und Staatsfrau gelobt. Woran liegt es, dass die Politik einer Person so unterschiedlich wahrgenommen wird?

Birgit Baumann: Sie ist unbestritten die wichtigste Politikerin der Welt, ohne sie geht auch in der EU nichts. Und sie ist seit 15 Jahren im Amt. Damit ist sie auch zur Projektionsfläche geworden, kann aber nicht alle Erwartungen erfüllen. Auch wenn die Deutschen Merkel nicht persönlich kennen, so geht es ihnen mit ihr doch ein wenig wie mit dem Partner oder Familienmitgliedern. Man ist nach so langer Zeit genervt, man meint, immer das Gleiche zu hören, und ist doch irritiert, wenn mal neue Töne kommen wie: "Wir schaffen das."

Im Bundestagswahlkampf 2013 konnte Merkel noch mit der Aussage "Sie kennen mich" für sich werben. Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger fühlte sich bei ihr gut aufgehoben, Merkel hatte sie gut durch die Finanzkrise geführt. Mit der Flüchtlingskrise aber änderte sich das, viele Bürgerinnen und Bürger hatten Angst vor einer Veränderung des Landes. Nun, während Corona, haben die Deutschen wieder sehr viel stärker das Gefühl, Merkel werde gebraucht. Und so mancher ist heilfroh, dass sie einen vorsichtigen Weg wählt und das Virus nicht so einschätzt, wie Donald Trump es tat.

Frage: Hat Merkel ihr politisches Wirken mit dem Sager "Wir schaffen das" auf den Kopf gestellt? Und wie hat sich das auf ihre Anhänger beziehungsweise Kritiker ausgewirkt?

Birgit Baumann: Auch wenn man nie alle Bürgerinnen und Bürger eines Landes erreichen kann, so hat Angela Merkel doch immer das große Ganze beziehungsweise die politische Mitte im Blick. Anders hätte sich die Union auch nicht seit Jahren als die stärkste Kraft im deutschen Parteienspektrum halten können. Der berühmte Satz "Wir schaffen das" hat hingegen sehr polarisiert und tut dies immer noch. Einerseits ist der Satz sehr kurz und prägnant und macht deutlich, dass eine gemeinsame Kraftanstrengung nötig sei. Andererseits blieb 2015 natürlich offen, was genau zu meistern sei. Die Aufnahme und Versorgung der Geflüchteten oder die Integration?

Dies wurde Merkel oft vorgeworfen, dass sie die Folgen der offenen Grenzen nicht bedacht hatte, dass sie keine Lösung für die Zeit danach anbot. Ihre Anhänger sahen in der Aufnahme der Männer, Frauen und Kinder in Not ein Bekenntnis zu einer menschlichen Asylpolitik und feierten sie dafür. Ihre Kritiker hingegen werteten dies als Dammbruch nach dem Motto: Alle Welt könne nach Deutschland kommen und werde hier aufgenommen. Man darf in diesem Zusammenhang einen weiteren Satz aus dem Spätsommer 2015 nicht vergessen. Merkel erklärte damals: "Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land."

Frage: Inwiefern hat sich Merkel in ihrer Amtszeit verändert?

Birgit Baumann: Angela Merkel ist sich in vielem treu geblieben, etwa ihrem Stil: ruhig und eher unaufgeregt. Verbale Ausbrüche sind nicht ihre Sache. Als sie 2005 ins Amt kam, hätte sie gerne mit ihrer schwarz-gelben Wunschkoalition, also einem Bündnis aus Union und FDP, regiert. Aber dazu reichte es nicht, es kam zur ersten großen Koalition seit 1969. Anders als in Österreich war eine große Koalition in Deutschland lange Zeit verpönt. In einem Bündnis mit den Sozialdemokraten konnte Merkel natürlich nicht all jene Sozialreformen umsetzen, für die sie als Oppositionschefin geworben hatte. Man erinnere sich: Es war in jener Zeit von einer "Kopfpauschale" in der Krankenversicherung die Rede, und das Steuersystem sollte so einfach sein, dass die Steuererklärung "auf einen Bierdeckel passt".

Doch Merkel machte aus der Not eine Tugend. Sie war an so drastischen Reformen dann gar nicht mehr so interessiert, sondern begann im Teich der SPD zu fischen, indem sie viele Maßnahmen einleitete, die die SPD guthieß. Bemerkenswert war etwa ihr Schwenk bei der Einführung des Mindestlohns, den sie zunächst abgelehnt hatte. Mit dem Zeitgeist segelte Merkel auch nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima 2011. Obwohl die Situation mit dem deutschen Atomkraftwerken nicht vergleichbar war, beschloss sie sehr schnell, doch früher als geplant aus der Kernkraft auszusteigen.

In vier Amtszeiten bildete Merkel drei große Koalitionen, man hat sich jetzt schon fast daran gewöhnt, Schwarz-Gelb war von 2009 bis 2013 die Ausnahme. In ihrer letzten Amtszeit machte Merkel noch einen bemerkenswerten Schwenk: Sie gab angesichts der Pandemie ihren Widerstand gegen gemeinsame Schulden in der EU auf, um die wirtschaftlichen Folgen von Corona zu mildern.

Frage: Poster "Hans Hansen" sieht als einen ihrer größten Erfolge die Lösung der Wirtschaftskrise an. Poster "beat126" sieht dagegen kein einziges Problem von ihr gelöst. Was waren in den 15 Jahren Kanzlerschaft die größten Erfolge Merkels? Was kann man als ihre größten Misserfolge bezeichnen beziehungsweise woran ist Merkel gescheitert?

Birgit Baumann: Das Glas kann immer halbvoll oder halbleer sein. Natürlich gibt es viele Menschen in Deutschland, die arm sind oder sich nur mit mehreren Minijobs über Wasser halten können. Doch im Schnitt gesehen ist Deutschland ein wohlhabendes Land. Vor der Corona-Krise gab es auch wenig Arbeitslosigkeit. Angela Merkel ist es also gelungen, die Volkswirtschaft stabil zu halten. Deutschland kam auch besser durch die Wirtschafts- und Finanzkrise als andere Staaten. Der Haushalt ist saniert, sodass sich Deutschland nun milliardenschwere Wirtschaftshilfen während der Pandemie leisten kann. Paradoxerweise profitierte sie lange von jenen einschneidenden Sozialmaßnahmen ("Hartz IV"), die noch ihr Vorgänger Gerhard Schröder eingeführt hatte und die 2005 in Kraft traten – jenem Jahr, in dem Merkel Kanzlerin wurde.

Als ihr größter "Sündenfall" gilt, auch in der Union, ihre Politik während der Flüchtlingskrise 2015. Das Offenhalten der Grenzen vertrug und verträgt sich nicht mit dem ordnungs- und sicherheitspolitischen Anspruch vieler Konservativer. Sie musste sich, nicht zu Unrecht, vorwerfen lassen, dass nicht kontrollierbar sei, wer ins Land komme. Der frühere CSU-Chef Horst Seehofer sprach sogar von der "Herrschaft des Unrechts".

In Deutschland konnten rechte Parteien – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern – lange nicht Fuß fassen. Doch die Flüchtlingskrise hat den Aufstieg der AfD ermöglicht, das werfen viele Kritiker Merkel vor. Andererseits: Ihre offene Haltung hat ihr in der bürgerlichen Mitte und auch in linkeren Kreisen viel Respekt eingebracht.

Frage: Gibt es wirklich keine Alternative? Wer könnte als Nachfolgerin oder Nachfolger reüssieren? Oder wird Merkel doch noch weitere vier Jahre als Kanzlerin weitermachen?

Birgit Baumann: Würde Angela Merkel noch einmal antreten, unterliefe ihr der gleiche Fehler wie Helmut Kohl im Jahr 1998. Er war damals schon 16 Jahre im Amt und hielt sich für unverzichtbar. Doch die Wählerinnen und Wähler hatten ihn satt, die Wiedervereinigung, für die Kohl gefeiert worden war, lag einige Jahre zurück, es zeigten sich die wirtschaftlichen Probleme. Das Ergebnis ist bekannt: Kohl wurde abgewählt, Rot-Grün unter Gerhard Schröder kam an die Macht und hielt sich bis 2005.

Derzeit ist Merkel aufgrund ihres Corona-Management wieder sehr populär, aber das kann sich – wenn die Pandemie irgendwann besiegt ist – schnell ändern. Vor Corona waren ihre Popularitätswerte deutlich niedriger als jetzt. Deutschland ist keine Monarchie, es gibt natürlich auch zu Merkel Alternativen. Wer ihr nachfolgen könnte, ist aber tatsächlich noch unklar. Zunächst braucht die CDU mal einen neuen Chef, und dieser soll im Jänner gewählt werden. Man darf aber nicht vergessen: Auch Merkel war 2005 nicht gleich die "große Kanzlerin". Auch ein Nachfolger wird klein anfangen. Das gilt für die möglichen Kandidaten Armin Laschet und Markus Söder (Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Bayern).

Frage: Angela Merkel als erste deutsche Bundespräsidentin – ist das vorstellbar?

Birgit Baumann: Nein. Angela Merkel hat klargemacht, dass sie nach ihrem Rückzug als Bundeskanzlerin kein politisches Amt mehr anstrebt. Das war, was Deutschland betrifft, glaubhaft. Abgesehen davon, dass man ihr dann auch die Pension gönnt und mehr Ruhe: Das Amt des Bundespräsidenten wäre nichts für Merkel. Sie ist es seit 15 Jahren gewohnt, Macht zu haben. Schwer vorstellbar, dass sie plötzlich hauptsächlich repräsentative Aufgaben wahrnehmen sollte. Zudem ist der amtierende Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, beliebt. Immer wieder ist spekuliert worden, dass sie zum Abschluss ihrer Karriere EU-Kommissionspräsidentin werden könnte. Aber da sitzt ja ihre Weggefährtin Ursula von der Leyen, und die will dieses Amt noch länger ausüben. Außerdem: Merkel ist 66 Jahre alt, irgendwann ist auch mal Schluss, dann sind andere an der Reihe. Einen Platz in den Geschichtsbüchern hat sie sich längst erarbeitet. (Birgit Baumann, Judith Wohlgemuth, 25.11.2020)