"Ganz normal. Off-Season halt." Irgendwann am Dienstag ruft Harald an. Verlässlich. Jede Woche. Weil ich – ebenso verlässlich jede Woche – wieder vergessen habe, ihm zu schreiben, was ich vorhabe. Daran passt mein Coach den Trainingsplan an. Ein bisserl.

Nicht dass ich mich ohne Haralds Vorgaben nicht bewegen würde. Nicht dass ich Haralds Plan dann sklavisch einhalte: Um einen Plan nicht einzuhalten, muss man ihn aber zuerst einmal haben. Ein Plan gibt Struktur, ist eine Leitlinie.

Ich mag das. Sportlich hilft es mir, systematisch und mit Feedback auf Ziele hin zu trainieren. Das ist das eine. Ein Luxus, den ich mir leiste und über den ich schon geschrieben habe. Aber das ist heute gar nicht das Thema.

Es geht um etwas anderes: darum, mit welchen Strukturen, welchen Plänen man sich – oder eben ich mich – durch strukturlose und einsame Zeiten hangelt.

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Ja eh: Menschen mit ein, zwei oder drei (home)schulpflichtigen Kindern sagen rasch, wie beneidenswert es sei, wenn sich im harten Lockdown Alltagsstrukturen auflösen. Wenn man – theoretisch – im Pyjama ein, zwei Zoom-Meetings hat und im Grunde tun und lassen kann, was man will. Irgendwann ein bisserl schreibt, telefoniert, putzt und einkauft und mit dem Moped unbekannte Sonnenuntergangsszenarien suchen fährt (hier: Laaerberg, von der Verschubbahnhofsbrücke aus). Da Strukturverlust zu beklagen, ist Jammern auf hohem Niveau. Aber wissen Sie was: So zu leben ist trotzdem einsam.

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Mir hilft da der Plan. Die Struktur. Ich gruppiere den Rest des Tages ums Training. Und sagte Harald am 17. November, dem ersten Tag des da noch als "hart" angekündigten Lockdowns, dass ich – no na – in den nächsten drei Wochen Zeit haben würde. Und er den Plan so schreiben solle, als wäre nix.

Der Haken dran: Am Dienstag ist normalerweise Bahntraining. Das Rudel trifft sich am LAZ-Platz (dem Leichtathletikzentrum neben dem Happelstadion) zum "Sterben mit Anlauf".

Das geht grad nicht. Genauso wenig wie Gruppentraining anderswo: Wenn in deinem Verein ein OGH-Richter, ein Jus-Professor und noch ein paar Anwälte und Richter die Corona-Verordnungen im Vereins-Whatsapp-Chatroom auseinandernehmen und dann wieder zusammensetzen, kannst du schwer sagen, nicht zu wissen, was drinsteht: Gruppentraining ist nicht. "Und damit ihr euch nicht 'ganz zufällig‘ beim Intervalllaufen auf der PHA trefft, kriegst für Dienstag eine Radrunde. Easy. Stadtverkehr kannst mittracken – gib halt zwei-, dreimal für zehn Minuten Gas."

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Irgendwann wird jemand demjenigen (ich fürchte, dass bei der Planung damals noch wenige Frauen eingebunden waren), der Insel und Donauufer in ihrer heutigen Form geplant hat, einen Orden umhängen: Hochwasserschutz? Ja eh. Aber weil der funktioniert, haben die meisten Wienerinnen und Wiener längst vergessen, wozu all das eigentlich gebaut worden ist.

Derzeit erfüllen die Treppelwege andere Dammfunktionen. Als Psychodämme. Die Insel ist ein Fluchtort. Nicht nur für mich: Gas geben, so wie es sonst – früher – in und zu den weniger belebten Ecken möglich war, ist derzeit nicht einmal ansatzweise möglich. Und an all den Lieblingsorten, an denen man sich – ich mich – früher wirklich am Ende der Welt wähnen konnte, ist Hochbetrieb.

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Tag 2. Mittwoch. Kalt, sonnig, ein bisserl Wind. Ich mag das. Das "G’schwinde" vom Dienstag findet bei mir heute statt. Vier mal zwei Kilometer auf Anschlag. Davor und danach nicht nur alibimäßiges Ein- und Auslaufen, dazwischen je 400 Meter lockerer Trab. Der ideale Spielplatz: die Hauptallee. Seit Eliud Kipchoge hier seinen Weltrekord gelaufen ist, kann niemand mehr sagen, dass man hier nicht schnell sein kann.

Auch wenn das gefühlt in einer anderen Zeit, auf einem anderen Planeten war.

War das wirklich erst vor einem Jahr?

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Intervalle sind gut gegen Einsamkeit. Sie blockieren nämlich schwarze Gedanken. Sie sind das Gegenteil von kontemplativ-depresessiv-meditativ. Wer während des Intervalltrainings sinnieren, brüten, hadern oder sich selbst bemitleiden kann, macht was falsch. Intervalle läuft man voll – oder gar nicht. Also "Augen zu und durch" – anders geht das nicht. Danach ist man streichfähig. Auch das hat was Gutes.

Nicht nur weil im Kopf unmittelbar danach außer "heim, duschen, essen, Sofa" nicht mehr viel stattfindet, sondern auch wegen der Erkenntnis beim Chillen: Gesund genug zu sein, sich diese Kante zu geben, ist ein Geschenk. Ein Privileg. Wer da jammert … und so weiter.

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Aber natürlich ist auch beim Intervalllaufen genug Zeit und Aufmerksamkeit da, um mitzubekommen, was ringsum abgeht: War die Stadt beim ersten Lockdown wie ausgestorben, weil viele auf ohne Rechtsbasis postulierte "Hausarrest"-Polit-Ansagen reinfielen, gilt nun das Gegenteil: Die Leute sind draußen. Gefühlt immer und alle. Eh verständlich. Und richtig: frische Luft, Bewegung. Und so weiter.

Wenn einem gecoachte Lauftechniktrainingsgruppen (man erkennt ja die Trainer) mit zehn und mehr TeilnehmerInnen entgegenhoppeln oder hinten im Wald vier stolze Väter mit neun Buben im Rudel mountainbiken, kommen Zweifel auf: So wird das nix.

Blockwartfotos werden Sie hier trotzdem keine finden.

Stattdessen diesen Zeitgenossen – als Referenz auf die Licht-Geschichte von letzter Woche. Für all jene, die meinten, ich würde es mit meiner "Christbaumbeleuchtung" übertreiben.

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Donnerstag. Irgendwer hat die Sonne geklaut. Aber das macht nix. Ich will eh nicht raus – und soll es grad auch gar nicht: Einer der Hauptfehler vieler Freizeitsportlerinnen und -sportler ist es, auf die "Begleitmaßnahmen" zu vergessen. Stabilitätstraining. Dehnen. Kraft- oder Core-Training.

Nicht nur beim Laufen sondern bei jedem Sport gilt, dass neben den unumstritten positiven Effekten auf Herz-Kreislauf-System, Ausdauer, Psyche, Stoffwechsel und die beim Training angesprochenen Muskelgruppen halt auch was fehlt: der Ausgleich. An den denken viele Leute viel zu wenig. Nicht nur die Entspannung und Erholung, sondern auch, dass "Yang" ohne das Yin nicht funktioniert.

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Ganz egal, ob das für Sie Yoga, Pilates, Stretching oder sonst was ist.

Egal, ob Sie das für sich alleine daheim improvisieren oder lieber zumindest die Simulation von Gruppe bevorzugen: Tun Sie es. Ihr Körper (aber auch Ihr Kopf) wird es Ihnen danken.

Wobei ich für mich mittlerweile gelernt habe, bei Online-Liveklassen vorsichtig zu sein. Mir die Kurse genau und bewusst auszusuchen. Wegen der Qualität der Inhalte? Ja, sowieso. Aber noch mehr wegen dem Danach: Eine gute Yoga- oder Wasauchimmerstunde spannt nicht nur, was Übungen und Positionen angeht, einen Bogen. Wie man da rausgeht, ist wichtig. Weil "Mood & Mind" das Gegenteil von Intervall & Impact sind.

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Wobei das dann ohnehin später kommt. Drinnen. "Weil jetzt fängt Fernsehen an", sangen Trio einst. Weil es draußen kalt und nass und windig und wäh ist – und der helle Teil des Tages zu kurz zum Draußen-Fahren war: "45 Minuten easy" stehen im Plan. Also einfach nur gemütlich strampeln – und hoffen, dass ich Netflix nicht bis zum Ende der Seuche leergeschaut habe.

Ich bin heilfroh, mir meinen Smart-Rollentrainer lange vor der Pandemie gekauft zu haben: Die Dinger sind derzeit fast so gefragt wie ein Impfstoff. Wahoo, einer der Marktführer, verkaufte angeblich in den paar Wochen des Frühjahrs-Lockdowns mehr Rollentrainer als im Herbst-Weihnachts-Geschäft der Jahre davor.

Aber dazu gibt es hier demnächst mehr.

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Freitag. Frisch, aber trocken. Lieblingslaufwetter. Ein Tempodauerlauf: Zwei Kilometer locker ein, zwölf knapp unter Halbmarathon-Wettkampftempo – und dann zwei locker aus.

Normalerweise ist acht Uhr früh da eine Zeit, in der relativ wenig los ist.

Trotzdem suche ich mir eine Runde, deren Hauptteil abseits der "beaten tracks" liegt: So sehr mich das Alleinsein mittlerweile anzipft, so sehr schätze ich es auf Läufen wie diesem. Das "Bamm-bamm" der Schritte hat etwas Meditatives – und der Druck, das Tempo zu halten, bringt mich nicht nur physisch in den "Flow", sondern auch mental: Bei einem gemütlichen Longjog wandern die Gedanken mal hierhin, mal dorthin – bei einem Tempolauf geht es auch im Kopf meist eine lange Gerade entlang.

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Samstag. Tag 5. Wenn Harald "Monster" in den Plan schreibt, wird es hart. "Monster" steht für Bike-Trainingspläne, die es in sich haben – und die draußen eher schwer zu fahren sind. Angaben wie "Zwei Minuten mit einer bestimmten Intensität und Trittfrequenz, dann 30 Sekunden locker", und das Ganze nochmal, aber härter und nochmal und nochmal, vertragen sich nicht mit Straße, Hügeln – und, das vor allem, anderen Verkehrsteilnehmern: Da wird man zur Gefahr.

Obwohl auch das Wetter zum Plan passt: Das Allein-Trainieren zipft mich an. Wieso rufe ich nicht drei Freunde an, wir packen uns warm und winddicht ein – und fahren einfach los?

Ach ja: Lockdown in Locktown. Ja, langsam wird es zaach. Falsch: Es ist zaach.

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Sonntag. Traumwetter. Ein typischer Sonntags-Longrun steht auf dem Programm. Longruns sind gemächliche längere Läufe. Da lernen Körper und Geist, auf halber Flamme vor sich hin zu köcheln. Das kann fad sein. Und genau das macht es dann richtig anstrengend – auch weil der Kopf auf Reisen geht.

"Sundays are Rundays" heißt es nicht grundlos in meiner Welt. Und ganz offenkundig nicht nur in meiner: Die Stadt, nicht nur die Hauptallee, ist voll mit Läuferinnen und Läufern. Eh gut. Trotzdem bin ich neidig auf alle, die mit Freund oder Freundin, Partnerin oder Partner oder der Familie unterwegs sind. Und das auch ausdrücklich dürfen und sollen. Erst recht bei so einem Traumwetter.

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Neid heißt aber nicht, anderen ihre Freude nicht zu gönnen: Wenn ich Leute wie Luka und Philipp beim Bouldern sehe, ist auch alles in Ordnung. Die Hallen sind zu, die Wände und die Sehnsucht da – und zu zweit, mit der berühmten "Bezugsperson" oder einem WG-Kumpel, ist nicht nur Spazierengehen erlaubt, sondern auch Bewegung sinnvoll (obwohl meine Hausjuristen … egal) : Abstände einhalten ist möglich.

Nur gibt es halt auch die anderen: Wenn ich an vollen, intensiv und auch mit Körperkontakt bespielten Basketballkäfigen oder öffentlichen Crossfit-Anlagen oder Reckstangen mit Vollbelegung (und – eh klar – körperlicher Assistenz- und Sicherungsleistung) vorbeikomme, wundert mich nix mehr. Und wenn ich an Autowaschanlagen und Tankstellen vorbeikomme, in deren Kabuffs zehn oder mehr Leute maskenlos dicht an dicht stehen und Automatenkaffee trinken, noch weniger. Eigenverantwortung? Jo eh …

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Drum hält sich mein schlechtes Gewissen wegen meines Bruchs der Einzelsportvorgabe dieser ersten Lockdownwoche denn auch in engen Grenzen: Sonntagnachmittag war ich dann mit meinem Best Buddy Ed Kramer doch noch schwimmen. Zum ersten Mal seit – gefühlt – Jahrhunderten. Und irgendwie ja sogar beruflich: Ed betreibt einen Lauf- und Outdoor-Sportshop, in dem es – auch – Freiwasser-Schwimmzeugs gibt. Winter-, Eis- und Kälteschwimmen sind in meiner, unserer Welt derzeit ein ganz, ganz großes, auch umstrittenes Thema.

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Und den Blueseventy-Thermo-Neo,der vor zwei Wochen bei mir aufschlug, kann und will ich ebenso wenig erst im April testen wie Ed seinen neuen Kaltwasser-Orca: Die knapp 400 (immer ufernahen) Meter in der angeblich sechs Grad "warmen" neuen Donau waren die mit Anstand beste "blöde Idee" der ganzen Woche.

Und: Ja, es macht unheimlichen Spaß – aber darüber (auch über die Bedenken) erzähle ich nächste oder übernächste Woche mehr und Genaueres.

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Denn hier und heute ging es um etwas anderes: die erste Solo-Sportwoche im Lockdown in Locktown. Ums Alleinsein.

Und darum, dass die Struktur eines Trainingsplans es zwar nicht einfacher macht, die eigenen Freunde nicht zu sehen – aber doch hilft. Eine Linie gibt. Oder eine Perspektive.

Und sei es die, dass am Montagabend dann "Gruppentraining" ist: Stabitraining für und mit den anderen Spinnern und Spinnerinnen in meinem Verein. Online. Letzte Woche, am Tag vor dem harten Lockdown, waren wir 16.

Diese Woche dann 20. Ohne Lockdown und nicht online kommt meist gerade eine Handvoll.

Zufall?

Natürlich ging es allen ausschließlich ums Training. Versicherten wir einander.

Aber zumindest ich habe gelogen:

Mir fehlen die Menschen.

(Tom Rottenberg, 24.11.2020)

Weiterlesen:

Wieso ich beim Laufen strahle: Am Abend unterwegs mit Reflektoren

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