Falco tinnunculus ist ein Wien-Fan, aber auch in anderen Städten ist er zu Hause. Wie hier an einer Kirche in Stuttgart zu sehen, schätzt er historische Bauten mit ihren Luken und Nischen.

Foto: Imago / Oliver Willikonsky

Sie werden wiederkommen. Wenn Mitte März im Volksgarten und am Ring die Frühlingssonne das erste Grün aus den Knospen treibt, wird oben am Himmel ihr typischer Ruf ertönen. Das hochtonige Keckern verkündet die Rückkehr der Turmfalken.

Die eleganten kleinen Greifvögel haben den Winter irgendwo außerhalb Wiens verbracht und besetzen nun erneut ihre städtischen Reviere. Bald darauf beginnt die Brutpaarbildung, wobei sich oft die Partner vom letzten Jahr an derselben Stelle wieder treffen.

Den Tieren gefällt’s offenbar in der Donaumetropole. Wien hat die größte Populationsdichte von Turmfalken in ganz Europa, betont die Biologin Petra Sumasgutner von der Universität Wien. Im Schnitt kommt auf jeden Quadratkilometer zwischen Kahlenberg und dem Zentralfriedhof etwa ein Brutpaar. Die meisten nisten nicht in Parks oder Grünzonen, sondern in den dichtbebauten Bereichen. Ein erstaunliches Phänomen.

Wien ist für die Vögel eigentlich ein ganz ungewöhnlicher Lebensraum, erläutert Petra Sumasgutner. Normalerweise jagt Falco tinnunculus, der Turmfalke eben, über offenem Gelände. Seine Hauptbeute sind Feldmäuse. Die aber kommen in der Großstadt nur selten vor, sagt die Wissenschafterin. Das Nahrungsangebot sei also nicht optimal. Doch was zieht die Greife dann in so großer Zahl an?

Auf Fassaden und Balkonen

Wahrscheinlich sind es die vielen Dachbodenluken, meint Sumasgutner. Diese typischen Strukturelemente tragen viele Wiener Gründerzeithäuser auf ihren Fassaden. "Sie haben perfekte Ausmaße" – als Nisthöhlen für Turmfalken. Ein architektonisches Erbe erhöht somit die städtische Artenvielfalt.

Rund die Hälfte aller Wiener Falkenpaare brütet in solchen Nischen. Die Dachbodenluken findet man auch an Gebäuden in Budapest und Prag, erklärt die Forscherin, aber nicht so häufig. Deshalb seien diese ehemaligen k. u. k. Städte wohl auch nicht so stark von Turmfalken besiedelt.

Seit einiger Zeit werden allerdings immer mehr Fassadennischen vergittert. Die Hausbesitzer wollen dadurch Tauben vergrämen. Für die Falken heißt das umziehen. Und sie wissen sich zu helfen. Inzwischen kapert F. tinnunculus auch Blumenkästen, wie Sumasgutner erzählt. Der Anblick flauschiger Jungfalken zwischen Tomatenpflanzen sei nichts Ungewöhnliches mehr.

"Hundertwasser-Falken"

Die Vögel lassen sich auch an prominenten Orten nieder. Im Kirchenturm von Maria am Gestade brütet jedes Jahr ein Paar, ebenso am Bezirksgericht der Josefstadt und an den Naturhistorischen und Kunsthistorischen Museen. Die "Hundertwasser-Falken" nisten sogar in 183 Metern Höhe am Schornstein der Müllverbrennungsanlage Spittelau, direkt unter der berühmten goldenen Kugel.

Auch in Bezug auf ihr Nahrungsspektrum legen die urbanen Greife eine bemerkenswerte Flexibilität an den Tag. Anstelle von Feldmäusen gibt es in der Stadt Hausmäuse und andere Kleinnager. Diese jedoch sind hauptsächlich nachtaktiv, erläutert Petra Sumasgutner.

Für die auf Sicht jagenden Turmfalken spielen sie als Beute eher eine Nebenrolle. Stattdessen erlegen die Krummschnäbel viele Kleinvögel. Wiener Falkennester sind oft voll mit Federn, sagt Sumasgutner.

Großer Speiseplan

Ein Falkenpaar muss sich ziemlich anstrengen, um seinen Nachwuchs sattzukriegen, betont die Biologin. Jedes der im Schnitt fünf bis sechs Junge brauche am Tag ein bis zwei Mäuse – oder ähnlich nahrhaftes Getier. "Das ist schon eine ganze Menge." Die Eltern können es sich nicht leisten, weitentfernte Jagdgründe anzufliegen, und gehen deshalb lieber im eigenen Viertel auf Beutefang.

Um mehr über den Speiseplan der Greifvögel zu erfahren, haben Sumasgutner und ihre Kollegen den Inhalt mehrerer Hundert Turmfalken-Speiballen analysiert. In den unverdaulichen Knäueln fanden sich unter anderem viele Überreste von Meisen, Spatzen, Amseln und Grünfinken. Auch Zauneidechsen werden offenbar regelmäßig gefressen, und nicht mal die blitzschnellen Mauersegler lassen die Wiener Turmfalken unbehelligt.

Rüttelflug

Tauben dagegen sind ihnen meistens eine Nummer zu groß. Aber nicht immer. Sumasgutner berichtet von einem ihr bekannten Terzel, sprich Falkenmännchen, welcher sich regelrecht auf die Taubenjagd spezialisiert hat. Das Tier lauert bevorzugt über den Innenhöfen höherer Häuserkomplexe.

Die Tauben müssen dort senkrecht starten, erklärt die Wissenschafterin. Während sie aufsteigen, stürzt sich der oben im Rüttelflug wartende Terzel mit voller Wucht auf sie herab. Das reicht.

Die Beute wird direkt an Ort und Stelle zerlegt – sie ist zu schwer, um im Ganzen zum Falkennest getragen zu werden. Eine handelsübliche Stadttaube wiegt schließlich rund 350 Gramm, ein Turmfalke um die 200 Gramm.

Eine Frage des Wetters

Sumasgutner und ihr Team untersuchen auch die Fortpflanzung der Wiener Falkenpopulation. Einer aktuellen Studie im Fachmagazin Frontiers in Ecology and Evolution zufolge wird der Zeitpunkt des Brutbeginns stark vom Wetter bestimmt. Bei reichlichen Niederschlägen legen die Weibchen ihre Eier deutlich später.

Interessanterweise scheinen die entscheidenden Regenperioden bereits vor der Rückkehr der Turmfalken anzufangen. Wie aber sollen die Tiere die lokale Wetterlage wahrnehmen und sich darauf einstellen, wenn sie noch gar nicht eingetroffen sind? Die Antwort liegt vielleicht im wenig erforschten Wanderverhalten der Tiere.

Niemand weiß bis jetzt, wo genau die Wiener Greife überwintern, sagt Sumasgutner. Möglicherweise ziehen sie nur "aufs Land", etwa in die umliegenden Regionen Niederösterreichs. Dort sind im Winter auf jeden Fall Turmfalken zu sehen. Wären es die aus der Hauptstadt, würden die Vögel praktisch derselben Wetterlage wie in der Metropole ausgesetzt sein.

Komplexes Puzzle

Wiederfunde von beringten Tieren haben allerdings gezeigt, dass zumindest einige mitteleuropäische Turmfalken in der kalten Jahreszeit nach Italien und Spanien ziehen, manche sogar bis nach Marokko.

Die vor den Toren Wien überwinternden Greife könnten dagegen aus Skandinavien oder dem Baltikum stammen. Ein komplexes Puzzle. Sumasgutner hofft, dieses durch Einsatz neuer, ultraleichter GPS-Sender zu lösen.

Die Minigeräte melden die Position ihrer Träger direkt an Satelliten, die Forscherin kann so den ganzen Zug verfolgen. Schon im kommenden Sommer sollen die ersten Wiener Turmfalken entsprechend ausgestattet werden. (Kurt de Swaaf, 29.11.2020)