Für Massentest müssten in Österreich überall Teststationen eingerichtet werden, ein logistischer Kraftakt.

Foto: imago

Politik soll so weit wie möglich auf wissenschaftlich belegbarer Evidenz basieren. Dieser Grundsatz ist immer wichtig – und in Zeiten einer Pandemie vermutlich ganz besonders. In der Corona-Krise wurde in Österreich immer wieder darüber diskutiert, ob die türkis-grüne Koalition den richtigen Experten genügend Gehör schenkt. Zum jüngsten Fall kam es, als sich die Ampelkommission geschlossen gegen zusätzliche Schulschließungen vor dem harten Lockdown ausgesprochen hat, diese dann aber dennoch kamen.

Einen neuen Anlass, um darüber zu diskutieren, wie evidenzbasiert die Politik agiert, bieten auch die geplanten Massentests in Österreich. In einem Pilotvorgang sollen alle Pädagoginnen und Polizisten am 5. und 6. Dezember beziehungsweise am 7., 8. und 9. Dezember getestet werden, ehe dann kurz vor Weihnachten die Massentests quer durch die Bevölkerung drankommen, auf die vor allem Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) drängt.

Nach STANDARD-Informationen gab und gibt es große Einwände gegen den Plan – und zwar genau in jenem Gremium, das maßgeblich die Expertise im Kampf gegen Corona liefern soll.

Taskforce hat zahlreiche Einwände

Alle wichtigen Fragen zur Pandemiebekämpfung werden im Rahmen der sogenannten Taskforce im Gesundheitsministerium besprochen. Corona-bedingt treffen sich die Expertinnen und Experten dort via Zoom. Am 17. November stand die Frage, ob Massentests eine sinnvolle Maßnahme in der Pandemiebekämpfung sind, auf der Tagesordnung.

Die Frage, ob eine Reihenuntersuchung bei Menschen ohne jedes Symptom eine Maßnahme wäre, die zur Eindämmung der Infektionszahlen beitragen würde, wurde aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Dem Vernehmen nach äußerte sich keiner der Experten für diese Massentests. Die Expertenkommission spreche sich gegen diese aus, heißt es in einer Zusammenfassung der Sitzung.

DER STANDARD hat mehrere Mitglieder der insgesamt 17-köpfigen Kommission zu ihren Einwänden befragt. Die meisten wollten anonym bleiben, weil sie der offiziellen Veröffentlichung des Berichts nicht zuvorkommen wollen.

Zum einen äußerten sich die Expertinnen und Experten besorgt angesichts der Logistik solcher Massentests, die ja nur dann Sinn machen, wenn 50 Prozent der Bevölkerung zweimal pro Woche getestet werden. Das Problem dabei: Wer genau soll diese breiten Testungen vornehmen, und wie verlässlich sind diese Tests, wenn sie nicht von medizinischem Fachpersonal durchgeführt werden?

Zum anderen geht es um die Unverlässlichkeit solcher Antigentests, was die zeitliche Komponente des Tests betrifft. Antigentests werden erst bei einer relativ hohen Viruslast positiv und erfassen damit unter Umständen Infizierte nicht, deren Infektion erst am Beginn steht. Zugelassen sind die Schnelltests aktuell nur bei Menschen mit Symptomen, wie es Günter Weiss, Innsbrucker Infektiologe und Direktor der Universitätsklinik für Innere Medizin, der selbst in der Taskforce sitzt, sagt. Ob und wie die Tests auch bei Menschen ohne Symptome anschlagen, sei weitgehend eine "Blackbox".

Falsche Sicherheit

Dritte große Sorge der Experten: Ein Antigentest könnte dazu führen, dass sich die Menschen in falscher Sicherheit wiegen. Sich freitesten für Weihnachten zum Beispiel wäre eine sehr gefährliche Option, denn theoretisch könnte sich jeder gleich nach einem Antigentest bei jemandem anstecken – bei Massentests fallen all diese Facetten ins Gewicht. Dem Vernehmen nach sind genau deshalb auch die Verantwortlichen in der Slowakei durchwegs unzufrieden mit dem Ergebnis.

Vierter bei der Sitzung geäußerter Einwand: falsch positive oder falsch negative Ergebnisse, die bei solchen Massentests ebenfalls ins Gewicht fallen. "Die Argumente dagegen sind nicht intuitiv und für Laien wirklich nicht leicht verständlich, da braucht man ein mathematisches Grundverständnis", sagt ein Experte, der nicht näher genannt werden will. Ein Massentest ist demnach nur dann sinnvoll, wenn die Durchseuchung der Bevölkerung hoch genug ist. Dann lassen sich per Massentest viele Infizierte herausfiltern. Ist die Durchseuchung nicht hoch genug, laufen Massentests ins Leere, fangen zu wenige ab.

Im Gesundheitsministerium heißt es, das Protokoll der Sitzung sei in der Endphase der Veröffentlichung und soll in den nächsten Tagen publiziert werden.

Popper: Gezielt testen

Der Taskforce gehören einerseits wichtige institutionelle Vertreter wie Michael Binder, der ärztliche Direktor des Wiener Gesundheitsverbundes, oder Gerry Foitik, Bundesrettungskommandant beim Roten Kreuz, an. Aber auch zahlreiche Gesundheitsexperten wie die Virologin Elisabeth Puchhammer oder der Simulationsexperte Niki Popper gehören dazu. Aber auch Infektiologe Herwig Kollaritsch und Allgemeinmedizinerin Susanne Rabady.

Popper sagt, dass sich das Gremium keinesfalls gegen Testungen ausspricht, im Gegenteil: Man sei für gezielte Tests bei bestimmten Bevölkerungsgruppen. Neben Pflegeheimen und beim medizinischen Personal nennt er etwa auch Menschen in sozial problematischen Beschäftigungsverhältnissen als Beispiele. Wichtig ist, eine nachhaltige Teststrategie zu haben, so Popper. "Massentests sind dann eine zusätzliche Maßnahme. Sie können nicht andere Dinge ersetzten, das muss man bei der Ressourcenplanung dringend berücksichtigen."

Ärztekammer-Chef: "Logistische Herausforderung"

Während bei der Sitzung am 17. November nicht Positives zu hören war, kommen inzwischen aus der Kommission auch differenzierte Stimmen: Der Chef der Ärztekammer, Thomas Szekeres, der ebenfalls in der Taskforce sitzt, sagt, dass Massentests natürlich Schwachstellen haben. Er sehe aber derzeit keine brauchbare Alternative, um einen dritten Lockdown zu vermeiden. Die Testungen in Südtirol haben gezeigt, dass eine hohe Zahl an Infizierten "herausgefischt" werden kann.

In der "ZiB2" am Dienstagabend zeigte sich Szekeres zuversichtlich, dass die ersten Massentestungen noch vor Weihnachten stattfinden können, aber: "Es ist eine logistische Herausforderung und es werden alle zusammenarbeiten müssen, um diese Herausforderung zu meistern".


ORF

Auch Szekeres hält Massentestungen nur dann für effektiv, wenn diese in Abständen wiederholt werden, was auch geplant sei. Ein "Freibrief zum Party Feiern" sei ein negativer Test allerdings nicht, hielt er fest, aber: "Es ist eine Aktion, die hoffentlich auch hilft, einen dritten Lockdown zu verhindern."

"Zunächst ablehnende Haltung"

Im Gesundheitsministerium sieht man es so: Richtig sei, dass "wesentliche Teile des Beraterstabs sich zunächst kritisch zu Massentestungen nach dem slowakischen Modell äußerten und eine ablehnende Haltung einnahmen". Doch die Kritik der Experten sei bei der Umsetzung der Tests, so wie sie nun in Österreich geplant sind, berücksichtigt worden, heißt es aus dem Anschober-Ministerium.

Wichtig sei etwa die Wiederholung derartiger Testungen laut Experten, die nun kommen werde. Die Durchführung der Tests finde außerdem nicht am Ende eines Lockdowns statt, die rechtlichen Rahmenbedingungen werden geklärt. Zudem soll es eine Nachtestung zur Absicherung bei einem positiven Testergebnis geben und "gegen Fehlinterpretationen von negativen Testergebnissen wird eine offensive Kommunikationsstrategie zur Risikominimierung verwirklicht." (András Szigetvari, Karin Pollack, 24.11.2020)