"Wenn Europa immer nur das Thema Migration im Blick hat, sind die vielen Investitionen sehr fraglich", sagt Belachew Gebrewold.

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Vergangene Woche lud die EU-Kommission zu einer hochrangigen interparlamentarischen Migrationskonferenz, um einen neuen Asyl- und Migrationspakt zu diskutieren. Belachew Gebrewold, Migrationsforscher am Management-Center Innsbruck, plädiert für ein radikales Umdenken in Europas Migrationspolitik, um die Zusammenarbeit mit Afrika zu verbessern.

STANDARD: Die Europäische Kommission hat ein neues Migrations- und Asylpaket vorgeschlagen und spricht von einem Neuanfang. Was ist da dran?

Belachew Gebrewold: Inhaltlich sehe ich nicht viel Neues an dem Paket. Alle Inhalte, die da genannt werden – zum Beispiel Grenzmanagement und effiziente Asylverfahren – standen auch schon im Valletta Plan of Action. Der war das Ergebnis des Gipfeltreffens zwischen europäischen und afrikanischen Regierungschefs 2015. Ich nehme an, die Kommission will mit dem neuen Paket einfach jene Staaten mit neuen Phrasen überzeugen, die die Pläne bisher kritisieren.

STANDARD: Um welche Pläne geht es?

Gebrewold: Es wird in vier große Bereiche investiert. Der erste nennt sich Einkommen und Beschäftigung. Der zweite zielt darauf ab, Resilienz zu stärken – vor allem in Bezug auf Ernährungssicherheit und klimawandelbedingte Nahrungsmittelknappheit. Der dritte fokussiert auf Migrationsmanagement und Grenzkontrollen, das ist der Schwerpunkt in Nordafrika. Der vierte setzt bei der Konfliktbearbeitung an. Dafür hat die EU zwischen 2015 und 2019 über den "Treuhandfonds für Afrika" fast 4,7 Milliarden Euro ausgegeben.

STANDARD: Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, fährt derzeit in acht Ländern sogenannte Risikoanalysezellen hoch, die Migrationsbewegungen tracken und Daten zu grenzüberschreitender Kriminalität sammeln. Was bedeutet das für die Gastländer?

Gebrewold: Frontex und auch die Polizei verschiedener europäischer Staaten versuchen zunehmend, mit afrikanischen Staaten zusammenzuarbeiten. Aber die afrikanische Seite weiß, dass es Europa eigentlich nur um das Migrationsthema geht und dass es gar nicht so besonders an der Zusammenarbeit interessiert ist. Europa wird in Afrika deshalb oft als Teil des Problems gesehen, nicht als Lösung. Wenn Europa immer nur das Thema Migration im Blick hat, sind die vielen Investitionen sehr fraglich.

STANDARD: In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit der Frage, warum Menschen aus Afrika nach Europa migrieren. Wo liegt dabei das größte Missverständnis?

Gebrewold: In Europa wird oft angenommen, dass Migration mit Konflikten oder wirtschaftlichen Motiven zusammenhängt – natürlich sind das ebenfalls Gründe, aber die Reduktion darauf ist zu kurz gegriffen. Etwa kamen in den vergangenen Jahren viele aus Nigeria, dem Senegal, der Elfenbeinküste und aus Ghana nach Europa. Länder, die politisch und wirtschaftlich große Fortschritte gemacht haben. Jene, die gar nicht von Armut betroffen sind, wandern eher aus als jene, die davon sehr stark betroffen sind. Das ist aber nicht nur ökonomisch zu erklären, sondern auch psychologisch.

STANDARD: Inwiefern?

Gebrewold: Wenn man von den materiellen Ursachen absieht, kann man Migration als eine Art Erlösungsprozess von der Entmenschlichung und Erniedrigung durch Sklaverei, Kolonialisierung und Missionierung sehen. Während der Kolonialzeit wurde den Afrikanern die Menschlichkeit negiert. Heute ist ein neues Selbstbewusstsein entstanden, viele haben einen besseren Zugang zu Ressourcen. Damit wurde die Migration nach Europa ein Angleichungsprozess, eine Identitätssuche, wie sie bereits Frantz Fanon, ein Denker aus Martinique, beschreibt. Für manche junge Männer ist Migration ein Initiationsritus zur männlichen Identität. Das ist der Kern meiner gegenwärtigen Migrationsforschung.

STANDARD: Die Kolonialzeit ist in der Migrationsdebatte im deutschsprachigen Raum kaum Thema. Häufiger geht es um die Frage, wie man Menschen davon abhalten kann, nach Europa einzureisen. Welchen Effekt hat diese Art der Politik?

Gebrewold: Der Diskurs über die Grenzziehung ist für mich das Symbol der ewigen Abgrenzung. Der "minderwertige" Mensch soll davon abgehalten werden, ins "zivilisierte" Europa zu kommen. Daher will man die natürlichen Barrieren – die Sahara-Wüste und das Mittelmeer – unüberquerbar machen. Aber je mehr Mauern gebaut werden, desto interessanter wird die andere Seite. Und auch für Europa ist das ein wichtiger Teil seiner Identität: Wenn andere trotz der vielen Hindernisse kommen wollen, muss es hier ganz toll sein. Europa fühlt sich in seiner Erhabenheit bestätigt. Um die europäische Identität zu verstehen, muss man die Kolonialisierung mitdenken.

STANDARD: Was würden Sie der EU-Kommission raten, damit ein Neustart der Migrationspolitik tatsächlich gelingen könnte?

Gebrewold: Es braucht ein radikales Umdenken. Wenn die wirtschaftliche Zusammenarbeit so konzipiert ist, dass sie im Grund nur darauf abzielt, dass niemand nach Europa auswandert, dann ist das eine verlorene Investition. Wenn man versucht, über wirtschaftliche Anreize Migration zu verhindern, dauert es zumindest 50 Jahre, bis der Effekt eintritt. Das zeigen viele ökonomische Berechnungen. Es braucht in etwa ein Einkommen von 6000 bis 8000 Euro im Jahr, damit wirtschaftlich motivierte Migration abnimmt. Davon sind die meisten sehr weit entfernt. Mein Appell ist deshalb: Investieren ja, Afrika bietet große und vielversprechende Märkte für Technologietransfer und Export. Aber wenn es dabei eigentlich um Migration geht, sollte man es lieber bleibenlassen.

STANDARD: Neben der wirtschaftlichen Zusammenarbeit wurde früher im Zusammenhang mit Migrationspolitik oft über die Demokratisierung gesprochen. Das neue EU-Migrationspaket spart das Wort komplett aus. Warum fehlt diese Forderung in der neuen Rhetorik?

Gebrewold: Die Demokratisierung ist im Diskurs mit Europa immer weniger ein Thema. Mich beunruhigt das sehr. Repressive Regime werden in vielen afrikanischen Staaten aktuell wieder stärker. Zwar gibt es immer wieder Proteste, den größten derzeit in Nigeria. Aber die Regierungen spüren immer weniger Druck von außen, solchen Protesten zuzuhören. Dabei spielt sicher auch eine Rolle, dass Staaten wie Ungarn und Polen Brüssel in Sachen Demokratie den Mittelfinger zeigen und es weltweit antidemokratische Entwicklungen gibt. Das sehen die afrikanischen Staaten und relativieren ihren Demokratisierungsprozess.

STANDARD: Auch hat sich Europa in der Vergangenheit durchaus bereit gezeigt, mit repressiven Staaten zusammenzuarbeiten …

Gebrewold: Paradebeispiel Libyen-Politik. Die war ein großer Fehler. Europa hat von Demokratie gesprochen und gleichzeitig Gaddafi gestützt, weil er der Torhüter gegen Immigration war. Das ist nicht lange gutgegangen. Daraus hat Europa gelernt und stellt heute kaum mehr Konditionen in puncto Demokratisierung. Es sieht so aus, als müsse sich Europa entscheiden, ob es ein Verfechter demokratischer Prozesse sein möchte – oder lieber nur seine Grenzen schützen will. (Alicia Prager, 28.11.2020)