Im Gastkommentar erläutert IHS-Chef Martin G. Kocher zwei zentrale Denkfehler der Modern Monetary Theory, wie sie Stephanie Kelton zuletzt im STANDARD-Interview (Kann Geld in der Krise knapp werden? "Nein, wir haben unendlich davon") vertrat.

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Staaten haben unendlich viel Geld, sie brauchen keine Steuerabgaben, besagt die vieldiskutierte MMT-Ökonomie.
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Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams ist ein irrwitziger "Reiseführer" durch die Galaxis. Einer der darin beschriebenen Planeten ist für die Wirtschaftswissenschaft besonders interessant: Magrathea. Das sagenumwobene Magrathea war, so der Reiseführer, lange in Vergessenheit geraten und wurde gemeinhin als Mythos angesehen, als eine "Geschichte, die Eltern abends ihren Kindern erzählen, wenn sie wollen, dass sie später Volkswirte werden".

"Die Modern Monetary Theory ist ein Mythos, eine Mischung aus bekannten Fakten und viel ideologischem Wunschdenken."

Manchmal erinnert die Modern Monetary Theory (MMT), der gerade wieder Aufmerksamkeit geschenkt wird, nicht zuletzt aufgrund eines Interviews mit Stephanie Kelton im STANDARD, an dieses Magrathea. Die MMT ist ebenso ein Mythos, eine Mischung aus bekannten Fakten über unser Geldsystem, einigen plausiblen Schlussfolgerungen über den Zusammenhang zwischen Geld- und Fiskalpolitik und darüber hinaus viel ideologisches Wunschdenken. Sie besagt, vereinfacht gesagt – es gibt keinen wirklichen Kanon –, dass sich ein Staat mit eigener Währung über die Gelddruckerpresse finanzieren kann, bis Vollbeschäftigung herrscht. Es sind nicht Abgaben, die den Staat finanzieren, sondern die Notenbank. Wenn die Inflation steigt, und das passiert der MMT zufolge nur, wenn die volkswirtschaftlichen Kapazitäten überausgelastet sind, dann kann Inflation durch höhere Steuern eingedämmt werden.

Hilfreiche Utopie

Die MMT ist im Gegensatz zu ihrem Namen keine richtige Theorie und auch nicht modern. Ich halte viel davon, über utopische Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle nachzudenken. Sie helfen uns, Strukturen zu erkennen und Argumente auszutauschen. Schwierig wird es immer dann, wenn utopische Vorstellungen als konkrete Anleitungen für die Wirtschafts- oder Gesellschaftspolitik daherkommen. Das gilt für die MMT genauso wie für die Gemeinwohlökonomie oder das bedingungslose Grundeinkommen. Alle halten einer evidenzbasierten Überprüfung zur konkreten Einführung aus unterschiedlichen Gründen nicht stand.

Die MMT suggeriert, dass es keine Knappheit gibt. Die MMT postuliert quasi das Schlaraffenland. Sie suggeriert, dass die Politik ohne Kollateralschäden die Geldmenge ausweiten, Vollbeschäftigung erzielen und damit alle wohlhabender machen kann. Knappheit als Ausgangspunkt anzuzweifeln ist in etwa so, als würde man den Energieerhaltungssatz in der Physik negieren. Die Idee, dass man quasi aus dem Nichts, mit Fiatgeld, langfristige ökonomische Werte schaffen kann, ist genauso undurchführbar wie Anlageformen, die hohe Renditen bei geringem Risiko versprechen.

Zwei Denkfehler

Dabei gibt es natürlich Aspekte der MMT, die zweifellos richtig sind und schon lange zum Kanon der Makroökonomik, dem relevanten Teilbereich der Volkswirtschaftslehre, gehören: Staaten mit einer eigenen Währung, die sich in dieser verschulden, können eigentlich nicht bankrottgehen. Die Fiskalpolitik kann durch Schulden die Geldpolitik vor sich hertreiben; das heißt, der Staat kann Defizite machen, und die Notenbank wird quasi gezwungen, diese durch expansive Geldpolitik zu unterlegen. Die Eurozone ist ein gutes (oder momentan besser: schlechtes) Beispiel dafür.

Es gibt aus meiner Sicht zwei zentrale Denkfehler in der konkreten Formulierung der MMT. Erstens vernachlässigt die MMT völlig die möglichen Kollateralschäden einer solch expansiven Politik: Inflationsgefahr und ein Verfall des Wechselkurses, der wiederum zu Inflation führt.

Buchhalterisches Konstrukt

Zweitens ist die MMT ein saldenmechanisches beziehungsweise buchhalterisches Konstrukt, das wichtige Verhaltensaspekte geld- und fiskalpolitischer Entscheidungen ignoriert. Ehrlich gesagt sind diese Verhaltensaspekte auch in der klassischen Makroökonomik nicht immer gut abgebildet, aber entscheidend für das Funktionieren von Wirtschaftspolitik und vor allem Geldpolitik sind Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Die MMT aber baut auf ein Konstrukt auf, das einem Pyramidenspiel ähnelt. So lange alle daran glauben, könnte sie in einem großen, wirtschaftlich unabhängigen Staat vielleicht funktionieren, aber wehe es gibt zu viele, die daran zweifeln und im Falle der MMT in andere Währungen oder Veranlagungen flüchten. Beispiele aus der Vergangenheit solcher Zusammenbrüche von Volkswirtschaften gibt es zuhauf.

Generell gilt: Ohne eindeutige Formulierung – und die fehlt für die MMT – sind Schlussfolgerungen begrenzt überprüfbar und können die Positionen immer wieder angepasst werden. Paul Krugman, Neo-Keynesianer und Nobelpreisträger, hat den Austausch mit den MMT-Leuten als Calvinball bezeichnet. Calvinball ist ein Spiel, das Calvin und Hobbes erfunden haben, bei dem sich die Regeln immer wieder während des Spiels ändern. Calvinball ist also quasi das Gegenteil eines rigorosen wissenschaftlichen Austausches.

Veränderte Geldpolitik

Auch ohne radikale Theorien hat sich die Geldpolitik in den letzten Jahrzehnten verändert. Vor zwanzig Jahren wäre die geldpolitische Reaktion auf eine Pandemie noch ganz anders ausgefallen, und sie hätte zu viel massiveren negativen realwirtschaftlichen Konsequenzen geführt. Die Geldpolitik ist pragmatischer und evidenzbasierter geworden.

Kommen wir zurück zum Planeten Magrathea. Der Planet in dem fantastischen Buch ist reich geworden, weil er ein unglaublich profitables Businessmodell entwickelt hat. Die Bewohnerinnen und Bewohner haben andere Planeten geplant und gebaut. Genau hier hört die Analogie zwischen der MMT und Magrathea auf. Volkswirtschaften akkumulieren langfristig Wohlstand, wenn sie in einem stabilen regulatorischen Umfeld mit wirtschaftsförderlichen Institutionen produktiv und innovativ sind und dabei ihre Ausstattung an Ressourcen und Wissen beziehungsweise Kompetenzen der Menschen optimal einsetzen. Für diese fundamentalen Zusammenhänge in der Entwicklung von Volkswirtschaften gibt es keine Abkürzung über makroökonomische Zauberinstrumente. (Martin G. Kocher, 25.11.2020)