In diesen Zeiten beschäftigt sich ORF-Chefsprecher Haimo Godler zum Beispiel mit der Frage, wie im Sender das Wort "Quarantäne" ausgesprochen werden soll. Man spricht es in Österreich mit "K" am Wortanfang: karanˈteːne.

Foto: Robert Newald

Es waren die 80er-Jahre, und Haimo Godler, heute 58, saß in einem Zweifamilienhaus im norditalienischen Städtchen Aquileia, von dort aus versorgte der Sender Alpe-Adria die österreichischen Touristen entlang der Adria mit heimischem Radioprogramm. Dabei musste Godler von Franz Lehár bis Deep Purple mehr oder weniger über alles Bescheid wissen, und an den Sonntagen, erinnert er sich, übertrugen sie dann auch noch live die Formel 1: "Gilles Villeneuve neuer Führender in Kyalami!", könnte also seine erste Moderation gelautet haben. Aber ob er damals auch schon gewusst hat, wie der Name des Führenden genau ausgesprochen werden muss?

Im September 1988 machte er schließlich den Sprechertest beim ORF. "Da gab es hunderte Bewerber", erinnert er sich, vier wurden ausgewählt, und er war einer von denen. "Sprecher" war damals ein eigener Beruf mit Festanstellung, zuständig nur für die Präsentation fremdverfasster Texte. Die Stars hießen Peter Fichna oder Melitta Tschapka, die Godler schließlich nach monatelangem Sprechtraining ins kalte Wasser der ersten ORF-Moderation stieß: Man hatte zu dieser Zeit den Sendeschluss samt Bundeshymne abgeschafft und brachte nun immer "Nachtfilme", von denen Tschapka ein großer Fan war. Irgendwann wollte sie dann lieber den Film weiterschauen, anstatt ins Studio zu gehen, um die Nachrichten zu moderieren. "Mach du es!", sagte sie am 3. Juli 1989 zu Godler. Solche Tage merkt man sich.

"Inoffizielles Amt"

Heute ist er "Chefsprecher" des ORF und weiß nahezu alles über "das Sprechen" inklusive der Aussprache der allermeisten Namen und Begriffe, jedenfalls "Villeneuve" und "Kyalami". Es ist ein "inoffizielles Amt", das ihm "nur" mit einer großen Überstundenpauschale abgegolten wird, und auch am schmucklosen Büro erkennt man nicht die Bedeutung, die seine Tätigkeit für den Sender und sein Publikum hat. "Viele Menschen sehnen sich heute ganz furchtbar nach der guten alten Zeit", sagt er. "Und ein Kriterium, das diese typologische Sicherheit ausmacht, ist die Sprache."

Oder "das Österreichische", um genau zu sein, von dem jeder Einheimische eine andere, allerdings jeweils sehr genaue Vorstellung habe, wie es im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gesprochen werden müsse. "Es gibt bei uns Vokabeln, die tatsächlich anders sind als im Deutschen", erklärt Godler. Das wäre "die Marille" zum Beispiel, und darum sagt im ORF auch niemand "Aprikose". Aber schon mit "der Tomate" werde es schwierig, weil man bei der eben nur in Ostösterreich überzeugt sei, dass man zu ihr Paradeiser sagen müsse.

"Deutschlandismus" als "Feind"

Unterschiedliche Sprachregionen innerhalb des Landes sind also eine der Herausforderungen, denen er sich als Chefsprecher stellen muss, um dem Sender eine einheitliche Sprache zu geben. Hören die Wiener im bundesweit ausgestrahlten Programm, dass jemand im Radio "an Weihnachten" sagt, dann führe das zu einem Aufschrei der Gattung "Ist der Adolf wieder einmarschiert, oder was?", obwohl man bei den Alemannen in Vorarlberg natürlich genau so redet. Früher, lacht Godler, waren es die Anglizismen, über die sich manche Hörer furchtbar aufregten, heute heißt der "Feind" in der Fachsprache tatsächlich "Deutschlandismus". "Richtig ist: Die Kinder sagen heute Tschüss, und es gibt keine Buben mehr, sondern Jungs." Die Digital Natives, "die Jungen" also, erlebten ihre sprachliche Sozialisierung aber nicht mehr wie früher wir Alten mit FS1 und FS2, sondern suchten sich ihre Medieninhalte im Netz. Und dann sei es eben wurscht, ob der Beitrag in Hallstatt oder Hannover moderiert wurde, "interessant ist ausschließlich der Inhalt".

Foto: Robert Newald

Kleines Land, große Sorgen, also die Frage: Wie müssen die Moderatoren im ORF nun "richtig" sprechen? "In bundesweit ausgestrahlten Programmen soll es österreichisch klingen, aber nicht regional", erklärt Godler. Dem stehe "die unglaublich wichtige Leistung der Landesstudios" gegenüber, die regionale Sprachformen praktizieren und erhalten. "Radio Tirol muss ein Programm von Tirolern für Tiroler machen", präzisiert er, "aber ein Tiroler Kulturbeitrag in der österreichweit ausgestrahlten 'ZiB' darf nicht so klingen, als wäre er im Zillertal auf einer Almhütte aufgenommen worden, das wäre provinziell." Und eben das Gegenteil von "regional".

Hoher Betreuungsaufwand

Godler muss sich in seinem Job daher um den Frühmoderator von Radio Kärnten genauso kümmern wie um Starmoderator Armin Wolf. Es sind um die 1.000 Kollegen, die regelmäßig auf Sendung gehen und von ihm monatlich einen Newsletter erhalten oder gerne auch eine persönliche Mail. "Sehr oft sind sie begabt", sagt der Chefsprecher, "sehr oft aber auch nicht." Das mache sie noch nicht zu schlechten Journalisten, aber sie bedeuten für ihn und den ORF eben "besonderen Betreuungsaufwand", seit der Sender die "medienideologische Entscheidung" getroffen habe, dass ein Journalist, der einen Beitrag recherchiert hat, diesen auch präsentieren können soll.

"Die Präsentation", erklärt Godler, "beruht auf drei Säulen: der Stimme, der Artikulation sowie der Rhetorik und Dramaturgie." Man müsse als Sprecher daher ein Staatsbegräbnis ebenso präsentieren können wie ein emotional aufgeladenes Schiwochenende in Kitz. "Die Emotion dabei", sagt Godler, "muss aber immer beim Publikum entstehen und nicht beim Präsentator", was, wie er lachend eingesteht, nicht jedem Sportreporter immer gelingen mag: "Wir haben gewonnen!" oder "Unsere Petra Kronberger!" sind Ausrufe, die jeder ORF-Konsument im Ohr hat. "Man kann aber auch nicht mit den Mitteln der Literaturkritik eine Fußball-Live-Übertragung verfolgen", sagt Godler. "Und ich bin kein Sprachingenieur. Ich kann nur anstiften, über Sprache nachzudenken."

Chimäre Burgtheaterdeutsch

Dabei kam für ihn heraus, dass ein "homogenes österreichisches Deutsch genauso eine Chimäre ist wie das vielgerühmte Burgtheaterdeutsch". Das werde nur deswegen verehrt, "weil man die Schauspieler verehrt hat und die große Zeit nach dem Krieg, wo mit unglaublich viel Pathos gesprochen wurde". Mit der strengen Lehre des Sprechens oder gar der "reinen Hochlautung" habe das nichts zu tun.

Diese ist laut Lehrbuch "die höchste, reinste, klarste Form des Deutschen im gesamten deutschen Sprachraum, ohne Regionalismen und daher nicht zuordenbar". Godler, ein Großer des Sprechens, sagt, dass er diese beherrschen würde. Aber er propagiert sie natürlich nicht als Form des Sprechens im ORF. Die Zusendungen empörter Hörer und Seher würden den Sender überfluten. (Manfred Rebhandl, 30.11.2020)