Das Mantra des Zählens, Messens und Prüfens an den Universitäten fördert nicht die Neugier der Studierenden, so die Bildungswissenschafterin Nadja Thoma im Gastkommentar.

Bologna brachte den Universitäten, wie Pisa den Schulen, eine Ausrichtung an "Learning-Outcomes".
Foto: Heribert Corn / http://corn.at

In den letzten Jahrzehnten sind international neoliberale Bildungspolitiken erstarkt, die die soziale Gleichstellung erschweren. Damit haben privatwirtschaftliche Formen des Managements Eingang an Bildungsinstitutionen gefunden, deren Ziele in erster Linie an Wettbewerb und Kosteneffizienz orientiert sind. Die Sinnhaftigkeit des damit verbundenen "Wettrüstens", das schon im Kindergarten beginnt, wurde auch für den österreichischen Kontext bereits mehrfach infrage gestellt, etwa von Bildungswissenschafter Stefan Thomas Hopmann.

Für die Beurteilung wissenschaftlicher Leistungen bedeutet das, dass nicht notwendigerweise die Inhalte von Forschungsarbeiten im Zentrum stehen, sondern die Höhe eingeworbener Drittmittel und Zitationsindizes. Auch die Universitätsfinanzierung aus Bundesmitteln und die Vergabe wissenschaftsexterner Fördermittel sind von wettbewerbsorientierten Indikatoren abhängig. Der Rückgriff auf Zahlen im Mantel der Objektivität führt allzu oft dazu, dass Quantität vor Qualität Vorrang hat. Entsprechend sind Universitäten angehalten, "Leistungsvereinbarungen" einzugehen.

Studieren wozu?

Von all diesen Veränderungen sind nicht nur Forschende und Lehrende, sondern auch Studierende betroffen: Mit dem Bologna-Prozess ist eine zunehmende Verschulung von Universitäten verbunden. Aus Kostengründen wurden Seminare für Kleingruppen zu riesigen Vorlesungen umdefiniert, und es lässt sich eine erhöhte Prüfungslast feststellen. Lehrveranstaltungen werden, ähnlich wie dies am Beispiel von Pisa für Schulen kritisiert wird, am Erreichen und Überprüfen sogenannter Learning-Outcomes ausgerichtet.

In den letzten Jahren ist vermehrt zu beobachten, dass viele Studierende zu Beginn des Semesters längst keine inhaltlichen Fragen mehr stellen, sondern ausschließlich am "Punkteschlüssel" der Klausur interessiert sind. In einem solchen Zusammenhang erfordert das Stellen von kritischen Fragen besonderen Mut. Lehrende werden jedes Semester aufgefordert, die "Prüfungsaktivität" von Studierenden zu steigern, was sie zum Vollstrecken von Vorgaben anhält, die eher am Abspulen auswendig gelernter Fakten als an der kritischen Auseinandersetzung mit komplexen Inhalten orientiert sind.

Geförderte Engstirnigkeit

Angesichts dieser Lage gäbe es die Möglichkeit, das Studium wieder stärker an Bildung als einem Prozess zu orientieren, der über formale Qualifikationen hinaus immer wieder von Neuem Auseinandersetzungen mit verschiedenen Facetten der Welt anregt: In der Bildungswissenschaft gibt es ausreichend Expertise, die über Publikationen auch öffentlich zugänglich ist. Allerdings zeichnet sich ab, dass die über ECTS kalkulierten Zeit-Weg-Strecken noch enger festgezurrt und damit Reflexionsräume eher geschlossen als geöffnet werden sollen. Studieren "um des Studieren Willens", so Uniko-Präsidentin Sabine Seidler, gehe schließlich nicht, womit Seidler das weit verbreitete Bild von faulen Studentinnen und Studenten stärkt. Aus dem Mund der Uniko-Präsidentin ist das mehr als nur irritierend.

In den letzten Wochen drangen zunehmend Inhalte einer Novelle des Universitätsgesetzes an die Öffentlichkeit: Im Zuge einer Umschichtung von Machtverhältnissen, von den Senaten zweier Salzburger Universitäten als "Orbánisierung" bezeichnet, sehen Pläne der Regierung vor, die zeitgleiche Inskription in mehrere Studien zu erschweren, was die Notwendigkeit inter- und transdisziplinärer Auseinandersetzung mit komplexen Themen erschwert und Neugierde auf das Denken ohne disziplinäre Scheuklappen zumindest nicht anregt. Wie soll eine staatlich geförderte Engstirnigkeit dieser Art mit den Anforderungen der Berufswelt kompatibel sein? Das Herunterleiern auswendig gelernter Phrasen und Formeln ist dafür jedenfalls nutzlos. Erfordert ist vielmehr, flexibel und kreativ auf unvorhergesehene Ereignisse, Krisen und Katastrophen zu reagieren. Wie genau die geplante Novelle dazu beiträgt, haben weder die Uniko-Präsidentin noch der Bildungsminister Heinz Faßmann bisher erklärt. Auch die geplante Zwangsexmatrikulierung für den Fall, dass der ECTS-pro-Semester-Parcours nicht den Vorgaben entsprechend durchlaufen wird, wurde von Rektorinnen und Rektoren der österreichischen Kunstuniversitäten scharf kritisiert.

Zählen, messen, prüfen

Insgesamt sind mit diesen Plänen Schlechterstellung oder Exklusion von Studierenden vorprogrammiert, die der Zufall der Geburt nicht in eine sozial und ökonomisch privilegierte Familie katapultiert hat. Zudem wird darin der längst mit belastbaren Belegen enttarnte Mythos des Vollzeitstudenten wieder sichtbar. Studierende, die neben dem Studium arbeiten (müssen) oder Kinder betreuen (in der Regel Frauen), werden zusätzlich benachteiligt. Die geplanten Änderungen führen dazu, dass strukturell angelegte Ungleichheiten Einzelnen als individuelles Scheitern angelastet werden. Ebenso werden trotz aussagekräftiger Zahlen zu psychischen Belastungen Studierender keine präventiven Maßnahmen getroffen, sondern der Zeit- und Leistungsdruck gesteigert. Der geplante Ausbau von Beurlaubungsmöglichkeiten dürfte hier kaum mehr als kosmetische Auswirkungen haben.

Das Mantra das Zählens, Messens und Prüfens, das Reduzieren von einstmals neugierigen Studierenden auf Humankapital und das Missverständnis, dass Bildung in Form erreichter Punktezahlen in standardisierten Tests abbildbar sei, lässt nichts Gutes hoffen. Wer nichts gegen die geplanten Änderungen einzuwenden haben dürfte, ist die Pharmaindustrie: Der Absatz an Schlafmitteln, Brain-Enhancers und Psychopharmaka wird aller Voraussicht nach zumindest nicht sinken. (Nadja Thoma, 25.11.2020)