Julian Assange verbrachte aus Angst vor einer Auslieferung an die USA sieben Jahre in der ecuadorianischen Botschaft in London, bis ihm das diplomatische Asyl entzogen und er im Vorjahr von der britischen Polizei verhaftet wurde.

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Es war nicht ihr erster Coup, aber einer der spektakulärsten: Vor zehn Jahren, am 28. November 2010, spielte die Enthüllungsplattform Wikileaks mehreren Medien über 250.000 teils geheime Dokumente des US-Außenministeriums zu, in denen Mitarbeiter von US-Botschaften in aller Welt aus ihren Herzen keine Mördergrube machten, was ihre Einschätzung der jeweiligen Entscheidungsträger in den jeweiligen Gastländern betraf. "Cablegate" war geboren.

Im Gegensatz zu vorher veröffentlichten Geheimdokumenten zum Afghanistan-Krieg und vor allem dem schockierenden Video, das die absichtlichen tödlichen Schüsse von US-Kampfhubschraubern auf Journalisten und andere Zivilisten im Irak-Krieg zeigte, wurden durch die Veröffentlichung der US-Diplomatenpost ("Cables") keine Kriegsverbrechen aufgedeckt. Sie bedienten stattdessen das zutiefst menschliche Bedürfnis, hinter verschlossene Türen zu blicken. In diesem Fall die Polstertüren diplomatischer Vertretungen, hinter denen klar ausgesprochen wird, was sonst in eben "diplomatische" Verbrämungen gekleidet – oder überhaupt verschwiegen wird.

Dementsprechend blieben gröbere politische Verwerfungen aus, als zu lesen war, der damalige russische Premier Wladimir Putin gebe den "Batman", der sich Präsident Dmitri Medwedew als "Robin" halte. Auch Attribute wie "Kaiser ohne Kleider" für den damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, die Zeichnung des libyschen Diktators Muammar Gaddafi als von seiner ukrainischen Krankenschwester abhängiger Hypochonder oder des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai als Paranoiker brachten die Welt nicht an den Abgrund. Moskau etwa reagierte – intendiert oder nicht – mit humoriger Nonchalance: Ein Regierungssprecher erklärte, man wolle die Originaldokumente einsehen – um sicherzugehen, dass keine Übersetzungsfehler gemacht wurden.

Grelle Beleuchtung

Die US-Diplomatie generell allerdings nahm durch die grelle Beleuchtung ihrer Einschätzungen wie auch ihrer Praktiken Schaden – nicht zuletzt, als bekannt wurde, dass das US-Außenministerium von seinen Mitarbeitern einforderte, gezielt nicht nur Einschätzungen und Pläne, sondern auch "biografische und biometrische Informationen" über die Vertreter der UN-Sicherheitsratsmitglieder zu besorgen – darunter damals übrigens auch Österreich.

Abgesehen davon zeigten die "Cablegate"-Dokumente wenig brisante Enthüllungen aus Österreich. Rund 1.700 diplomatische Schriftstücke stammen aus der US-Botschaft in Wien, sie attestieren dem Land eine "Kluft zwischen dem Bild, das Österreich sich selbst von seiner Rolle in der Welt macht, und seiner tatsächlichen, zunehmend bescheidenen Leistung".

Dem damaligen Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) schreiben die Berichte "kein persönliches Interesse an Außenpolitik" zu, Außenminister Michael Spindelegger (ÖVP) sei "weitgehend darauf konzentriert, das Vordringen der österreichischen Wirtschaft" zu befördern, und Verteidigungsminister Norbert Darabos (SPÖ) nicht nur "uninteressiert an Außen- und internationaler Sicherheitspolitik", sondern auch noch "offen ablehnend gegenüber Plänen, österreichische Truppen auf gefährliche Einsätze ins Ausland zu schicken".

"Peinliche" Versuche der FPÖ

Über die FPÖ wussten die US-Diplomaten nach einem Treffen mit Parteichef Heinz-Christian Strache und Generalsekretär Harald Vilimsky zu berichten, deren "peinliche Versuche, sich anzubiedern", etwa mit positiven Kommentaren zur Todesstrafe oder dem Hinweis, man habe ähnliche Positionen zum Islam, "lassen auf geringen Nutzen eines Dialogs schließen". Ein veritabler Dorn im diplomatischen Auge waren den USA den veröffentlichen Dokumenten zufolge die Geschäftsbeziehungen österreichischer Unternehmen zum Iran und Nordkorea, allen voran der Energiekonzern OMV, die Waffenschmiede Steyr-Mannlicher und die Raiffeisenbank.

Während Wikileaks sich zum "erste Geheimdienst des Volkes" und Vorkämpfer für Transparenz stilisierte, warfen Kritiker der Plattform damals wie heute vor, mit ihren Enthüllungen die nationale Sicherheit und das Leben von Informanten zu gefährden – zumal Wikileaks Dokumente teilweise ungeschwärzt mit Klarnamen veröffentlichte. Für die USA wurde Wikileaks-Gründer Julian Assange zum Staatsfeind.

Assange verbrachte aus Angst vor einer Auslieferung an die USA sieben Jahre in der ecuadorianischen Botschaft in London, bis ihm das diplomatische Asyl entzogen und er im Vorjahr von der britischen Polizei verhaftet wurde. Seitdem sitzt er in einem Londoner Hochsicherheitsgefängnis und wartet auf die Entscheidung über den Auslieferungsantrag aus Washington, wo er wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente und Verstößen gegen das Antispionagegesetz angeklagt ist. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu 175 Jahre Haft.

Bradley Manning

Assanges hauptsächliche Datenquelle hat es schon hinter sich: Der damals 22-jährige, im Irak stationierte US-Nachrichtendienstanalytiker Bradley Manning versorgte Wikileaks mit insgesamt hunderttausenden Dokumenten. Er wurde 2010 festgenommen und im August 2013 wegen Spionage zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt. Durch einen Gnadenerlass des damaligen demokratischen US-Präsidenten Barack Obama kam Manning 2017 vorzeitig frei – mittlerweile nach einer Geschlechtsumwandlung als Chelsea Manning. "Hinter sich" gilt allerdings auch im Falle Mannings nur relativ: Im März des Vorjahres unternahm sie den bereits dritten Selbstmordversuch, nachdem sie wegen der Verweigerung der Aussage im US-Verfahren gegen Assange zeitweilig in Beugehaft genommen war. (APA, 25.11.2020)