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Spätestens seit April wurde vielen Anlegern klar, dass die chinesische Wirtschaft relativ unbeschadet durch dieses schwierige Jahr kommen würde.

Foto: AP / Xiong Qi

Es hätte ein großartiges Jahr für chinesische Anleger und den Finanzstandort China werden können. Während die westlichen Volkswirtschaften in die größte Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg rutschen, wächst China – mit voraussichtlich zwei Prozent aufs Jahr gerechnet.

Im dritten Quartal lag das Wachstum sogar bei fünf Prozent. Der chinesische Leitindex CSI 300 spiegelte das wider: Da war eine kleine Delle im Februar – ausgelöst durch den Lockdown in Wuhan und die Angst vor dem Virus. Doch spätestens seit April wurde vielen Anlegern klar, dass die chinesische Wirtschaft relativ unbeschadet durch dieses schwierige Jahr kommen würde.

Im Oktober erreichte die Marktkapitalisierung aller chinesischen Aktien, die in Schanghai und Shenzhen gelistet sind, die Rekordmarke von 10,08 Billionen US-Dollar. Der CSI notierte um 17 Prozent höher als zu Jahresbeginn. Den chinesischen Märkten ist es sogar gelungen, ausländisches Kapital anzuziehen.

Rund 26,5 Milliarden US-Dollar flossen an die Festlandbörsen. Anleger weltweit haben registriert, dass die Staaten Ostasiens, zumindest nach jetzigem Stand, wesentlich besser mit der Pandemie umgehen können und besser durch die Krise kommen.

Hongkong ersetzen

Hinzu kam: Durch das "Nationale Sicherheitsgesetz" wurde Hongkong als bevorzugter Standort für Börsengänge in Asien ein weiteres Stück marginalisiert. Die Börsen in Schanghai und Shenzhen schienen reif, den Finanzplatz ersetzen zu können.

Auch die chinesischen Anleger schienen wieder reif für den Aktienmarkt zu sein. Der letzte große Crash hatte im Sommer 2015 stattgefunden. Die Führung in Peking hatte es für eine gute Idee gehalten, die eigene Bevölkerung zum Kauf von Aktien anzuhalten. Und so waren es zwischen 2007 und 2015 vor allem Kleinanleger, Wanderarbeiter, Rentner und Angestellte, die ihre Ersparnisse an der chinesischen Börse investierten.

Chinesische Anleger sind zurück an der Börse.
Foto: Imago Images / May James

Der Boom endete jäh: Im Juni 2015 sackte die Börse innerhalb weniger Tage um 30 Prozent nach unten. Die Regierung sah sich gezwungen, in den Markt einzugreifen: Sie verbot Leerverkäufe und verpflichtete große Versicherungsunternehmen und Banken, Aktien zu kaufen, um die Kurse zu stützen. Zu spät: Hunderttausende von Kleinanlegern verloren ihre Ersparnisse. Vereinzelt kam es auch zu Protesten.

Das Vertrauen in den chinesischen Aktienmarkt war daraufhin für Jahre beschädigt. "Freie Marktwirtschaft ist gut, solange die Wirtschaft wächst und die Kurse steigen", so das Credo der kommunistischen Führung. Dass Rezessionen und Bärenmärkte auch eine bereinigende Wirkung haben und dadurch sogar langfristig das Vertrauen in den Markt steigt, ist ein für die Führung schwer zu schluckendes Paradox. Und unter diesem Vorzeichen ist auch das große Ereignis dieses Jahres zu sehen: der geplatzte Börsengang der Ant Group.

Ein Rekordflug mit Bruchlandung

Hätte Jack Ma sein Unternehmen an die Börse gebracht, wäre dies ein Meilenstein in der chinesischen Finanzgeschichte gewesen – und ganz nebenbei der größte Börsengang überhaupt. Das IPO war am 21. Oktober genehmigt worden und hätte 34,5 Milliarden US-Dollar einspielen sollen. Die Aktien waren mehrfach überzeichnet.

Die 2014 gegründete Ant Group stellt in Chinas verkrustetem Banken- und Kreditvergabesystem eine Revolution dar. Sparer können auf dem Smartphone verschiedene Produkte wählen: Anders als in westlichen Ländern sind die Sparzinsen in China nicht negativ. Zudem gehören zur Ant Group Yue Bao, der weltweit größte Geldmarktfonds, und Sesame Credit, ein Dienst für Mikrokredite. All das funktioniert per Klick oder Wisch. Vor allem junge Chinesen lieben das Produkt.

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Der Börsengang der Ant Group stand lange Zeit im Fokus. Dann wurde er last minute abgesagt.
Foto: Reuters / Aly Song

Noch wichtiger als die Anlageprodukte ist die App Alipay. Sie wird von 700 Millionen Menschen in China genutzt. Wer heute in Schanghai oder Peking mit Geldscheinen bezahlen möchte, wird angeschaut, als käme er aus einem vergangenen Jahrhundert. Selbst kleinste Garküchen sind dazu übergegangen, ihre Nudelsuppen mit dem Smartphone bezahlen zu lassen. Neben der Konkurrenz-App des Konzerns Tencent ist Alipay nicht mehr aus dem Alltag der Chinesen wegzudenken.

Kurz vor knapp aber machte die Führung in Peking einen Strich durch die Rechnung. Der größte Börsengang der Welt wurde am 3. November abgesagt. Angeblich soll es Präsident Xi Jinping höchstpersönlich gewesen sein, der dies veranlasst hatte. Zu sehr greift das Geschäftsmodell von Ant Financial das traditionelle Kreditvergabesystem in China an. Zudem soll sich Milliardär Jack Ma durch diverse Äußerungen über das veraltete Bankensystem den Unmut der Regulatoren und einflussreicher Politiker zugezogen haben.

Für die chinesischen Börsen bedeutet dies nichts anderes, als dass sie abhängig vom guten Willen der Kader in Peking sind. Unternehmen wie internationale Anleger dürften das so schnell nicht vergessen. (Philipp Mattheis aus Schanghai, Magazin "Portfolio", 22.12.2020)