"Man wird vermehrt ebenerdig wohnen, in den früheren Leerstandsflächen, wie das in Holland bereits der Fall ist." Zukunftsforscher Andreas Reiter

Foto: Oliver Wolf

STANDARD: Der Blick in die Zukunft ist derzeit wahrscheinlich nicht nur wegen des herbstlichen Nebels sehr unscharf. Inwieweit kann eine Pandemie wie Corona langfristige Trends beeinflussen?

Andreas Reiter: Die Pandemie ist kein Game-Changer, sie "beschleunigt" nur die meisten Entwicklungen, zum Beispiel die Digitalisierung, den Strukturwandel hin zum multilokalen Arbeiten, die Bedeutung des öffentlichen Raums in Städten und anderswo. Andererseits bremst sie kurzfristig etwa den Klimaschutz.

STANDARD: Jede Generation vor uns hat zumindest in Ansätzen anders gelebt als die vorhergehende, das wird wohl so bleiben. Ein Phänomen unserer Zeit scheint aber zu sein, dass alles viel beschleunigter vor sich geht. Täuscht der Eindruck?

Reiter: Der täuscht. Jede Generation hatte bisher mit Beschleunigung zu kämpfen. Nur waren früher, in der Vormoderne, die Zeitstrukturen linear, alles war planbar – von der Wiege bis zur Bahre: Beruf, Ehe, Wohnort. Heute agieren wir in einem extrem volatilen Umfeld, mit hybriden Strukturen, wo sich zum Beispiel permanent unsere Lebenswelten Arbeit und Freizeit vermischen. Und wir sind permanent mit allem und jedem vernetzt. Das erzeugt ein Gefühl der Gestresstheit, der Zeitknappheit.

STANDARD: Die Einführung des iPhone war so eine Zäsur. Nicht nur die Körperhaltung, auch das Verhalten der Menschen insgesamt hat sich stark verändert seither. Werden wir noch mehr derartige Zäsuren sehen, möglicherweise sogar in kurzen Abständen?

Reiter: Eines zeichnet sich jetzt schon ab – wir organisieren unser Leben immer virtueller und smarter, mit allen positiven und negativen Aspekten, die damit einhergehen.

STANDARD: Zum Beispiel?

Reiter: Denken wir an Konferenzen, die wegen Corona seit dem Frühjahr als Hybridveranstaltungen konzipiert oder gänzlich in den virtuellen Raum verlegt werden mussten …

STANDARD: … was halbwegs funktioniert, wenn es gute, starke Datenleitungen gibt.

Reiter: Das ist eine Grundvoraussetzung, die aber auch nicht immer und überall gegeben ist, immer noch nicht. Aber auch dort, wo es ohne Ruckeln funktioniert, stößt man an Grenzen.

STANDARD: Atmosphärisch geht viel verloren, wenn man sich nur virtuell trifft?

Das Coronavirus, so heißt es, könnte uns um Jahre zurückwerfen. Das mag ökonomisch zwar zutreffen, gilt aber nicht generell, ist Zukunftsforscher Andreas Reiter überzeugt.
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Reiter: So, wie das jetzt gehandhabt wird, schon. Ich erinnere mich an einen Event, der wegen der Corona-Beschränkung ins Internet verlegt werden musste. Zuerst gab es ein Impulsreferat, dann einen Zoom-Talk, anschließend ein Get-together.

STANDARD: Das klingt doch nett?

Reiter: Alle, die angemeldet waren, bekamen im Vorfeld per Post ein Lunchpaket inklusive Wein zugestellt. Nach Abschluss des offiziellen Teils hieß es dann Paket auf, du öffnest den Wein, der andere macht das auch. Man prostet sich vor der Kamera zu, das ist Schwachsinn.

STANDARD: Was stattdessen?

Reiter: Diese Brückentechnologie werden wir schnell hinter uns lassen und bald schon die nächste Stufe erklimmen in eine hochgradig virtuelle Welt, in der wir uns gegenübersitzen, auch wenn jeder räumlich woanders ist.

STANDARD: Wie soll das gehen?

Reiter: Mittels Virtual Reality. An holografischen Lösungen für Videokonferenzen wird schon gearbeitet, die es Vortragenden erlauben, Reden zu halten und sich dabei im Raum zu bewegen wie in echt, ohne anwesend zu sein. Lösungen, die es ermöglichen, Konferenzen oder andere Veranstaltungen zu besuchen, ohne fliegen zu müssen. Das können wir uns jetzt noch schwer vorstellen. Ich hoffe, dass wir uns in fünf Jahren wieder so treffen wie gewohnt, analog und mit Handschlag. Wir können uns aber auch digital treffen, was manchmal aus Zeit- oder Distanzgründen ja durchaus von Vorteil sein kann.

STANDARD: Viele junge Leute haben sich während Corona virtuell zu Partys getroffen, einzeln im jeweils eigenen Zimmer, zusammengeschaltet per Video, ein Bier oder anderes Getränk in der Hand. Not macht erfinderisch?

Reiter: Ja, nur wird uns das bald so steinzeitlich vorkommen, wie wir jetzt im Abstand von drei Jahrzehnten auf die Anfänge der Mobiltelefonie zurückblicken. Die ersten Handys waren auch groß und schwer wie ein Ziegel.

STANDARD: Die heutigen Smartphones sind, überspitzt gesagt, unsere verlängerten Hirne. Und ja, telefonieren kann man auch noch mit ihnen. Apropos: Wie lange werden wir noch Handys mit uns tragen?

Reiter: Handys und Smartwatches, die wir jetzt noch am Körper tragen, sind Auslaufmodelle. Der Chip ist in ein paar Jahren in uns, davon bin ich überzeugt. Wir werden nicht gechippt, wie manche Verschwörungstheoretiker das insinuieren, die meisten lassen sich den Chip gern unter die Haut legen, weil es praktisch ist. Du kannst ihn nicht verlieren und auch nicht versenken in der Badewanne oder im WC.

STANDARD: Und den Akku?

Reiter: (lacht) Um ihn aufzuladen, musst du gehen, was, nebenbei bemerkt, total gut für die Gesundheit ist. Healthy Lifestyle. Schon vor Jahren hat man überlegt, wie man übergewichtigen Kindern helfen könnte, und ist auf die Idee gekommen, sie auf ein Tretrad zu setzen und ihre Lieblingsfilme abzuspielen. Die Filme liefen aber nur, solange sie in Bewegung waren auf dem Rad. Die zunehmende Digitalisierung bringt ganz neue Möglichkeiten, damit wir uns spielend fit halten können.

STANDARD: Das körperliche Wohlbefinden ist das eine, die Psyche etwas anderes.

Reiter: Auch da tun sich mit zunehmender Digitalisierung ungeahnte Möglichkeiten auf, in der die Umgebung, in der man wohnt, nicht mehr statisch ist, sondern respondierend.

STANDARD: Das heißt was?

Reiter: Dass sich, wenn eine Person zum Beispiel schlecht drauf ist und die Wohnungstür öffnet, die Tapete vielleicht orange färbt, weil der Hautwiderstand beim Anfassen der Türschnalle die entsprechende Information geliefert hat. Oder jemand mit Kreuzschmerzen setzt sich hin, und das Möbelstück passt sich der Situation an. Alles wird beweglich.

STANDARD: Und außerhalb der Wohnung, in der Stadt?

Reiter: Die verändert sich total. Man merkt das in Ansätzen jetzt schon. Die Shops werden weniger in den Einkaufsstraßen, die Flächen gehen zurück, der E-Commerce beschleunigt sich nicht nur durch die Pandemie enorm. Gewisse Märkte wird es weiter geben, weil das auch so ein Ritual ist, der Besuch beim Lieblingsstand, ein Stück vermeintliche Ursprünglichkeit in der Stadt. Die Apotheke wird weiter ihren Platz haben, das eine oder andere Lebensmittelgeschäft auch, viel mehr aber nicht.

STANDARD: Trostlos. Überall Gastronomie, wo jetzt Textil-, Schuh- oder andere Geschäfte sind?

Reiter: Diese Räumlichkeiten werden anders bespielt in Zukunft. Man wird vermehrt ebenerdig wohnen, in den früheren Leerstandsflächen, wie das in Holland bereits der Fall ist. Denken wir doch an den Bedeutungswandel der Dachböden. Früher war das ein No-Go-Ort, wo man die Wäsche zum Trocknen aufgehängt oder Möbel abgestellt hat, die man nicht mehr brauchte. Mittlerweile sind Dachböden zum besten Platz im Haus geworden, Dachausbauten boomen. So wird das mit ganz vielen anderen Sachen sein, dass sich neue Formate einspielen, an die man jetzt noch gar nicht denkt. Aber es stimmt, ein Stück des gewohnten Lebens in den Straßen der Städte verschwindet.

STANDARD: Dabei beklagen wir jetzt schon diese Uniformität, überall dieselbe Pflasterung in den Fußgängerzonen, überall dieselben Ketten.

Reiter: Die gibt es dann nicht mehr, kein Esprit, kein H&M, die sind dann alle virtuell. Es wird stattdessen ein paar coole, kleine Firmen geben, die im Hinterhof produzieren und straßenseitig einen Showroom haben mit Gustostückerln drinnen, wie der Gruß aus der Küche in besseren Restaurants. Im internationalen Kontext gibt es das immer mehr, dass sich Showroom und Verkauf entkoppeln. Man schaut beim Flanieren, kauft aber online.

STANDARD: Noch dominiert aber das Hybride.

Reiter: Die Betonung liegt auf noch. Wir sind noch gewohnt, in Geschäfte zu gehen und die Beute gleich mitzunehmen. Das gibt es in Zukunft nicht mehr. Wir werden viele Attraktionspunkte haben, die inspirieren sollen, gekauft wird aber ganz woanders.

STANDARD: Wie verdienen wir künftig unser Geld?

Reiter: Es wird Berufe geben, die wir heute noch nicht kennen. Ein bedingungsloses Grundeinkommen, wie es jetzt diskutiert wird, halte ich höchstens als Zwischenlösung für angebracht. Das Thema wird stark von IT-Firmen aus dem Silicon Valley getrieben, die die Welt von morgen designen und zu wissen glauben, dass es nur mehr ein Zehntel der Arbeitskraft von früher braucht, die restlichen 90 Prozent müssten ruhiggestellt werden. Im Prinzip ist der Mensch dazu geschaffen, dass er sich adaptiert. (Günther Strobl, Magazin "Portfolio", 27.12.2020)