Die beschuldigten Soldaten vor dem Gericht in der bretonischen Hauptstadt Rennes.

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Die Organisatoren sprechen von der "Vermittlung von Traditionen". In Wahrheit handelt es sich darum, Rekruten zu drillen, ihren Widerstand zu brechen – und sich nebenbei an ihren Strapazen zu amüsieren. So geschah es am 30. Oktober 2012 auf einem bretonischen Übungsgelände der Militärschule Saint-Cyr.

Kurz vor Mitternacht holten Schüler des zweiten Jahrgangs "die Neuen" aus den Betten. Der Befehl lautete, den schweren Helm, Stiefel und Kampfanzug anzuziehen. Und die Mission bestand darin, mit mehreren Kilo Ballast einen 42 Meter breiten eiskalten Teich zu durchqueren. Dass das Gewässer stellenweise drei Meter tief ist, wussten die Neulinge nicht.

Soundtrack aus "Apocalypse Now"

Viele bekamen Panik, wie sie später den Ermittlern sagten. Aber auch wenn sie ständig Wasser schluckten und sich aneinanderklammerten, gab es nur eines: ans andere Ufer zu gelangen. Der Horror der einen war für die anderen eine Gaudi: Über Lautsprecher intonierten die selbst noch jungen Organisatoren Wagners "Walküre" – wie in Francis Ford Coppolas Vietnam-Film "Apocalypse Now".

Eine Stunde später war es vorbei mit dem Spaß: Dann ging den Rekruten auf, dass einer fehlte. Da kein Offizier mit von der Partie war, wurde nicht gleich Alarm geschlagen. Erst um 2.35 Uhr wurde die herbeigerufene Feuerwehr fündig. Der Leichnam gehörte Jallal Hami, einem der Besten seines Jahrgangs.

Brillanter Schüler

Der großgewachsene 24-Jährige war zwar ein mäßiger Schwimmer, aber sonst ein brillanter Schüler. In Algerien geboren, war er mit seiner Mutter und seinem Bruder vor den FIS-Islamisten in seinem Land in letzter Minute geflohen. In Paris legte er, obwohl in der Armut aufgewachsen, eine Bilderbuchkarriere hin: Unter anderem absolvierte Jallal Sciences Po, die Spitzenuni für politische Wissenschaften; dann bewarb er sich für die prestigereichste Militärakademie Frankreichs, Saint-Cyr – Kaderschmiede französischer Offiziere, Kondensat soldatischen Nationalstolzes.

Man hätte erwarten können, dass Hamis Tod für Aufregung sorgt. Doch vorerst geschah gar nichts. In Saint-Cyr mag man keine Negativschlagzeilen, keine Beeinträchtigung eines Rufes, der so blütenweiß ist wie eine ordenbehängte Galauniform. Acht Jahre lang verzögerte die Akademie, deren Abgänger in Paris wichtige Machtpositionen besetzen, die Ermittlung des Todesfalls. Erst diese Woche hat in der bretonischen Hauptstadt Rennes der Prozess gegen sieben Verantwortliche begonnen.

Verbotenes Vokabel

Die meisten leisten noch Dienst in der Armee und präsentierten sich dem Richter wie aus dem Ei gepellt. Die nächtliche Schlaucherei vom Oktober 2012 nennen sie eine "Übung", geplant eben zur "Vermittlung der Traditionen". Keiner von ihnen nimmt das Wort "bizutage" in den Mund. So nennt man in Frankreich erniedrigende oder sonst wie perverse Initiationsriten.

Nur selten handelt es sich um einen harmlosen Jux wie etwa die Anweisung, eine Stunde lang die "Marseillaise" zu pfeifen. Beliebt sind Liegestütze auf beschmutztem Toilettenboden, Schamhaarrasuren oder der Auftrag, auf der Straße in Lockenwicklern betteln zu gehen. Je gebildeter die Eliteschule, desto primitiver das "bizutage".

Wenn Alkohol im Spiel ist, artet es gerne aus. Dann trifft es die Schwächsten, gerne auch Frauen. Knochenbrüche kommen vor, auch Vergewaltigungen. Im hierarchisch aufgebauten Frankreich gehört das "bizutage" seit Napoleon zum Repertoire gesellschaftlicher Unterwerfungsriten. Sie dringen selten nach außen, sind aber in Schulen und teils auch Betrieben äußerst verbreitet.

Verbot seit 1998

Die Nationalversammlung beschloss zwar 1998 auf Initiative der nachmaligen Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal ein Verbot des "bizutage"; das Strafmaß reicht bis zu sechs Monaten Haft. Kurioserweise wissen das aber die wenigsten Franzosen. Verletzte Opfer erfahren meist erst im Spital von dem Tatbestand.

Die Familie von Jallal Hami hat nur dank nervenzehrender Ausdauer erreicht, dass es nach acht Jahren überhaupt zum Prozess kommt. Die Angeklagten boten als Entlastungszeugen unter anderem einen ehemaligen General der Fremdenlegion auf, der den Todesfall als "Missverständnis" bezeichnete. Als er auch noch kommentierte, der Verstorbenen habe "nicht Nein zu sagen gewusst", platzte dem Bruder Rachid Hami der Kragen: Vor dem Gerichtssaal erklärte er den Journalisten, Saint-Cyr sei eine "Schande für die Armee".

Der arrivierte Filmemacher mit Wohnsitz Taiwan arbeitet nun an einem Film über den Werdegang und Tod seines Bruders. Vom Urteil erwartet Rachid Hami nicht viel: Mehr als Haftstrafen auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung stehen nicht an. Wichtiger war ihm, dass sein Bruder heute auf dem illustren Pariser Friedhof Père-Lachaise ruht, unweit von Edith Piaf, Jim Morrison, Oscar Wilde oder Balzac.

Saint-Cyr, die so piekfeine Akademie, die prächtige Staatsbegräbnisse zu inszenieren versteht – sie wollte Jallal Hami im Muslimen-Eck eines namenlosen Banlieue-Friedhofs bestatten. (Stefan Brändle aus Paris, 25.11.2020)