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Den Sturz von Mohammed Morsi durch das Militär 2013 begrüßten weite Teile der ägyptischen Gesellschaft.

Foto: AP/ Hassan Ammar

Nein, die Fragen, die die Ermittler nach den landesweiten Razzien am 9. November den Verhörten stellten, sind sicher nicht mit den chinesischen Repressalien gegen uigurische Muslime zu vergleichen – wie es der an der Universität Salzburg tätige Politologe Fared Hafiz, der selbst zu den Betroffenen gehört, in einem Artikel sehen wollte. Manches, wie auch seine Bezugnahme auf die "Kristallnacht", richtet sich selbst.

Aber wenn der auf Facebook zirkulierende Fragebogen für die Verhörten stimmt, dann weht einem bei manchen Fragen zumindest ein Hauch von Skurrilität an: So wüsste man gerne, was die politisch korrekte Antwort auf "Kennen Sie Yassir Arafat?" und "Was halten Sie von ihm?" ist. Dass Arafat der Hero der Muslimbruderschaft sein soll – denn gegen die geht es ja bei den Ermittlungen –, wäre eine Neuheit.

Nach dem Begriff "Kuffare" gefragt, könnte man auch antworten, dass das eine deutsche Pluralbildung des arabischen Pluralworts "Kuffar" (Ungläubige) ist. Aber wer will sich schon an – meist unbedeutenden – Fehlern stoßen, die sich auch in der 186-seitigen "Anordnung" der Durchsuchungen und der Verhöre finden. Nein, Mohammed Morsi wurde nicht am 30. Juni 2012 gewählt, sondern vereidigt, und die Muslimbruderschaft gründete ihre Partei FJP auch nicht, als sich "das Ende der Regierung von Hosni Mubarak abzeichnete", sondern danach. Und so weiter. Macht nichts.

Verkürzte Geschichte

Problematischer scheint schon die Schwerpunktsetzung des Abrisses der Geschichte der 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft (MB) in der "Anordnung". Die Gutachter werden dahingehend zitiert oder interpretiert, dass man die MB und jeden, der damit zu tun hat, abschließend beurteilen kann, wenn man auf deren frühen Jahrzehnte und radikalen Elemente schaut: Das reicht für den Terrorverdacht immer und überall.

Während der Fall bei der palästinensischen Hamas eindeutig ist – sie ist eine Terrororganisation und soll auch so behandelt werden, Arafat war übrigens nicht ihr Gründer –, ist es bei der Muslimbruderschaft im Allgemeinen und auch bei ihrem ägyptischen Zweig eben nicht ganz so einfach. Es gibt in westlichen Staaten immer wieder Vorstöße, sie als Terrororganisationen zu listen, das scheitert jedoch an der Erfüllung der Kriterien. Das gilt auch für die USA, wo Donald Trump sonst stets ein offenes Ohr für die Anliegen jener nahöstlichen Partner hat, die die MB verboten haben, wie Ägypten, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain. In Österreich löste man das Dilemma, indem man die MB-Symbole und deren Verbreitung – und damit die MB selbst – verbot.

In etlichen arabischen oder islamisch geprägten Staaten sitzen Muslimbruder-Parteien in Parlamenten. In Kuwait treten sie am 5. Dezember bei den Wahlen an, in Jordanien hat die MB-Partei IAF (Islamische Aktionsfront) soeben, am 10. November, einen Urnengang absolviert (wobei die Mutterorganisation in Jordanien derzeit verboten ist, aber aus rechtlich-formalen Gründen). In Tunesien ist Ennahda von Rached Ghannouchi eine politische Kraft, die die demokratischen Regeln akzeptiert hat. Tawakkol Karman, weibliches Mitglied der jemenitischen MB-Partei Islah, bekam 2011 den Friedensnobelpreis.

Man muss sie alle nicht – kann das wohl schwerlich – sympathisch finden; man darf irritiert sein, wenn diese Parteien Wahlen gewinnen. Und in Österreich soll man sich – verfassungskonforme – Lösungen überlegen, wie man die Verknüpfung von Religion und politischer Betätigung verhindert, die unserem liberalen Rechtsstaat zuwiderläuft.

Die Chance von 2011

Aber zurück nach Ägypten: Der Sturz von Hosni Mubarak 2011 und der politische Aufstieg der MB, die angesichts ihrer Wahlerfolge in einen veritablen Machtrausch verfielen, war eine Zeit der ideologischen Auseinandersetzungen innerhalb der MB. Das moderate Lager – das auch von vielen jungen Frauen unterstützt wurde – versuchte seine Anliegen durchzusetzen. Gegen die alte Führung hatte es keine Chance. Auch die Hoffnung, dass sich die neue MB-Partei FJP in eine "zivile Partei mit einem islamischen Referenzrahmen" entwickeln würde, zerschlug sich bald ("zivil" ist hier als Gegensatz zu religiös zu lesen).

Der Sturz des zunehmend erratisch agierenden Muslimbruderpräsidenten Mohammed Morsi am 3. Juli 2013 wurde zwar vom Militär ausgeführt, war aber von einer breiten zivilgesellschaftlichen Bewegung getragen. Hinter dem damaligen Armeechef und Verteidigungsminister Abdelfattah al-Sisi hatten, als dieser die Absetzung Morsis verkündete, etwa der koptische Papst, aber auch der ehemalige Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA in Wien, Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei, Aufstellung bezogen.

ElBaradei wurde Interims-Vizepräsident – und verließ ein paar Wochen später Ägypten, als die Armee mit brutaler Gewalt gegen ein Protestlager der Muslimbruderschaft losschlug. ElBaradei ist ein Symbol dafür, was seither geschah. Jede Art von Anti-Sisi-Regung läuft Gefahr, mit dem Stempel "staatsfeindlich" und "terroristisch" versehen zu werden. Das geht sehr schnell. Hoffentlich nicht auch in Österreich. (Gudrun Harrer, 26.11.2020)