Journalistin und Autorin Eva Maria Bachinger fragt in ihrem Gastkommentar, ob gesellschaftlich nicht grundsätzlich etwas falsch läuft, wenn junge Menschen extremen Ideologien verfallen.

Hör sofort auf mit dem Scheiß, das ist doch Blödsinn. Leg die Waffen weg und setz dich her zu mir. Erzähl mir, was dich so wütend macht", hätte die beim Terroranschlag in Wien ermordete 44-jährige Frau dem jugendlichen Täter wohl gesagt, schrieb ihre Schwester an dieser Stelle. Sie hätte gefragt und ihm zugehört. Für sie sei ein Mensch in erster Linie ein Mensch gewesen.

Was zählt? Welche Werte leben die Erwachsenen vor? Ein Jugendlicher beim Basketballtraining in einem Ballkäfig in Wien.
Foto: APA/Hochmuth

Nach einem Anschlag sind viele Expertinnen und Experten zur Stelle, die versuchen, Antworten auf das Unfassbare zu geben und Lösungsvorschläge zu präsentieren. Auffallend ist jedoch, dass die psychologische und soziale Dimension in medialen Diskussionen rasch weggewischt wird. Meist wird nur die Frage gestellt, wie lange Terroristen in Haft bleiben sollen, wie der Verfassungsschutz sie besser beobachten und kontrollieren, wie die Polizei effizienter mit der Justiz zusammenarbeiten soll. Dominierend ist derzeit die Suche nach Antworten auf die Frage, wie man nach so einer Tat in Zukunft besser als Polizei oder Justiz agieren sollte – und nicht was hier grundsätzlich gesellschaftlich falsch gelaufen ist oder läuft.

Diese Diskussion ist natürlich schwieriger. Denn da müssten tiefgreifende Änderungen in Angriff genommen werden. Da geht es auch um Geld und Zeit für Eltern, die zu viel arbeiten, für Lehrkräfte, die überfordert sind, denen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter und psychologisches Personal an den Schulen fehlen, um mit Jugendlichen zurechtzukommen, die den Unterricht sprengen und nicht mehr erreichbar sind. Da geht es auch um mehr Unterstützung von Justizwachebeamten, die am Limit arbeiten.

Empathielos, kalt, leer

Auch die Sozialarbeit oder die Psychotherapie haben keine letztgültigen Antworten, aber wir sollten uns wichtigen Fragen stellen: Wie kann es sein, dass ein junger Mensch, im wohlhabenden, friedlichen Österreich geboren und aufgewachsen, so empathielos, kalt und leer ist, dass er auf ihm unbekannte, unschuldige Menschen schießt und auch in Kauf nimmt, selbst getötet zu werden? Wie wertlos erscheint ihm das Leben?

Wie kommt es dazu, dass Jugendliche auf der Suche nach Identität und Beziehung stundenlang im Internet hängen und dort auf extreme Ideologien treffen? Warum sind sie empfänglich für jemanden, der sie auffordert, zu hassen und zu rächen, der sagt, wo es langgeht, wo das Heil zu finden ist? Wer hat in der schnelllebigen, effizienten Welt, in der wir leben, Zeit für Kinder und Jugendliche, wer hört ihnen wirklich zu?

Egoistische Welt

Wir verteidigen unsere Lebensweise angesichts des Terrors, die Freiheit und die Gleichheit. Doch auf die Geschwisterlichkeit, auf die dritte Säule des Liberalismus, wird gerne vergessen. Welche sozialen Verhaltensweisen vermitteln wir Erwachsene jungen Menschen tatsächlich? Geht es in unserer konsumorientierten, materialistischen, egoistischen Welt nicht vor allem um "ich, ich, ich" – und weniger um hehre Ideale wie Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit?

Wie steht es denn wirklich um Gleichheit und Freiheit, wenn ausbeuterische, prekäre Beschäftigungsformen auch in Österreich mittlerweile gang und gäbe sind, wenn die soziale Herkunft letztlich entscheidend ist, ob man studiert und Karriere macht?

Füttern nicht Erwachsene Jugendliche mit Weltbildern, wo vor allem Konsum, Inszenierung und Selbstdarstellung zählen? Merken wir nicht, wie hohl und wenig erfüllend solche Wertvorstellungen sind?

Wer nicht mithalten kann, ist selbst schuld, ein armseliger Verlierer in diesem Rennen um Geld und Status? Der "amerikanische Traum" ist globalisiert, jeder ist angeblich seines Glückes Schmied, jeder muss auf sich selbst schauen. Das wird besonders dann beschworen, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich auseinandergeht und der Sozialstaat diskreditiert ist.

Zorn und Hass

Ist hier vielleicht auch ein Grund für zahlreiche Kränkungserfahrungen von Jugendlichen zu finden, die Zurückweisung, Ablehnung, Scheitern erleben und sich irgendwann aufgeben, nur noch Zorn und Hass in sich tragen, auf eine Gesellschaft, für die sie überflüssig, unnütz sind?

Und wäre ein Scheitern an sich nicht so schlimm, wenn es erwachsene Vorbilder geben würde, die klar vermitteln: "komm, steh auf, mach weiter, ich glaube an dich, ich bin für dich da, auch wenn du scheiterst, scheitern ist nicht so schlimm, passiert uns doch allen, dein Wert als Mensch ist unabhängig davon"? In der Sozialarbeit müssen andere Maßstäbe als in der Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft gelten, denn hier begegnet man Menschen, die nach den etablierten Normen als gescheitert gelten. Oft können sie sich mit Unterstützung aus misslicher Lage befreien oder Verhaltensweisen ändern, aber häufig kann man an der jeweiligen Situation wenig ändern. Es geht hier auch um aushalten, da sein – und zuhören.

Eine Antwort auf viele Fragen könnte das Motto der Vinzirast sein, einer sozialen Einrichtung für obdachlose und geflüchtete Menschen: "Wir gehören alle zusammen. Jeder kann etwas tun." Wir können alle dazu beitragen, dass Fanatismus, aus welchem Eck auch immer, nicht auf fruchtbaren Boden fällt, indem wir Menschen mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen, egal, was jemand getan hat oder woran er gescheitert ist, egal aber auch, was er erreicht hat und als wie erfolgreich er gilt. Wir sind aufeinander angewiesen, und jeder und jede ist wichtig. Das sollten wir vor allem Kindern und Jugendlichen glaubwürdig vorleben. (Eva Maria Bachinger, 27.11.2020)