Polizisten in Bordeaux im Anti-Demo-Einsatz.
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"Frankreich, ist deine Freiheit in Gefahr? Vergisst die alte Nation der Menschenrechte ihre Werte?", fragte am Donnerstag das eigentlich unpolitische Boulevardblatt "Le Parisien" zum Thema "globale Sicherheit". So nennt die Regierung von Präsident Emmanuel Macron ihr neues Gesetz, das derzeit zwischen den zwei Parlamentskammern kursiert. Umstritten ist vor allem Artikel 24, der das Fotografieren und Filmen von Polizisten untersagt, wenn ihre "physische oder psychische Integrität beeinträchtigt" wird.

Als Folge müssten auch Medien die Gesichter von Einsatzpolizisten "flouten" – das heißt: unkenntlich machen. Gegner halten der Regierung vor, sie wolle Bildbelege für Polizeiübergriffe an Demonstrationen verhindern. Das sei ein Angriff auf die Pressefreiheit, meint die "Allianz der Informationspresse", die 284 französische Zeitungen vertritt.

Am Samstag wird in Paris ein "Marsch der Freiheiten" gegen das Gesetz organisiert. Der Polizeipräfekt Didier Lallement hat den Umzug aus Corona-Gründen verboten und will nur ein "statisches" Treffen auf der Place de la République zulassen.

Zusammenstöße

Dort war es bereits am Montag zu Zusammenstößen mit der Polizei gekommen, als ein Hilfswerk gemeinsam mit Migranten ein symbolisches Zeltlager aufschlug. Wie zahlreiche Videosequenzen belegen, gingen die Ordnungskräfte nicht gerade zimperlich zu Werke: Sie schlugen am Boden Liegende, stellten einem Davonrennenden ein Bein und schleppten Afghanen in ihre Zelte gewickelt davon.

Sogar Innenminister Gérald Darmanin zeigte sich "schockiert". Die politische Opposition fragte darauf maliziös zurück, ob er von den angewandten Polizeimethoden nicht dank der Videofilmen erfahren habe, die er verbieten wolle. Auch das Magazin "L’Obs" meinte, die von Darmanin anberaumte Untersuchung zu den Polizeiexzessen werde "die gleichen Bilder benützen, die das Gesetz zu vernichten droht".

Das geplante Sicherheitsgesetz schafft ansonsten eine Lokalpolizei in Paris und mehr Kompetenzen für private Wachfirmen; es verbietet Feuerwerke und erleichtert den Waffengebrauch sowie die Überwachung mittels Drohnen. Dank der Mehrheit der Macron-Partei "La République en marche" (LRM) und der Rechten hat es am Dienstag die erste Hürde der Nationalversammlung genommen.

"Unnötiger Erlass"

Die nationale Ombudsfrau Claire Hédon hält den Sammelerlass jedoch für "unnötig" und fordert die Regierung auf, ihn zurückzuziehen. Ähnlich tönt es aus Brüssel, wo ein Sprecher betonte, auch in Frankreich müssten die Journalisten "frei und in Sicherheit" arbeiten können. Genau das wäre laut dem französischen Journalistenverband SNJ nicht gegeben, da die Polizei bei einer Demo die Herausgabe von Videosequenzen verlangen könne.

Das Tauziehen um den ominösen Artikel 24 hat diese Woche eine noch breitere Debatte angestoßen. Auch wenn es in Frankreich kaum Anti-Masken-Demos gibt, stören sich viele Bürger an den Corona-Vorschriften und -Strafen. Und daran, dass Frankreich drei der letzten fünf Jahre im Ausnahmerecht verbracht hat – zuerst wegen der Terroranschläge von 2015 und 2016, jetzt wegen der Virusgefahr.

Seit Monaten fällt Macron die wichtigsten Entscheidungen zur Pandemie-Bekämpfung nicht mehr in der gewöhnlichen Regierungssitzung, sondern im vertraulichen "Rat zur Staatsverteidigung". Dieser wenig transparente "Conseil de Défense" fällt seine Beschlüsse außerhalb des normalen Verfahrens zwischen Exekutive und Legislative.

Aufgabe für das Höchstgericht

Trägt er damit "autoritäre Züge", wie Pariser Medien meinen? Der sozialistische Ex-Justizminister Robert Badinter, eine Art graue Eminenz des französischen Rechtswesens, winkt ab. "Hier geht es um Leben und Tod. Frankreich bleibt ein Rechtsstaat. Wer will, kann die höchsten Gerichte als Kontrollorgane anrufen." Das tut die Regierung mit ihrem neuen Polizeigesetz gleich selbst.

Auch der konservative Philosoph Raphaël Enthoven sieht in Frankreich keine der autoritären Tendenzen, die er etwa in China, Russland und dem arabischen Raum ausmacht. Für gefährlicher hält er die "Tyrannei der Online-Gerichte" mit Verschwörungstheorien, Selbstzensur und persönlichen Attacken.

Aber es gibt auch warnende Stimmen wie den Anwalt Patrice Spinosi. Er hält die Institutionen der Fünften Republik zwar für solid, solange ein Präsident wie Macron da sei. "Aber wenn morgen ein Trump an die Macht käme – wer weiß, wie sich die Staatsverteidigung und die Gesetzgebung entwickeln würden." Den Namen Marine Le Pen vermied der Verwaltungsrechts-Anwalt bewusst.

Yves Jeanclos, Jusprofessor an der Universität Paris-II, hat herausgefunden, dass sich die Sicherheitskräfte in Frankreich binnen drei Jahren fast verdoppelt haben: ein Ordnungshüter pro 281 Einwohner im Jahr 2018, heute einer pro 150 Einwohner. Insgesamt zähle Frankreich derzeit 30.000 Lokalpolizisten, 100.000 Gendarmen, 150.000 nationale Polizisten und 170.000 private Wächter. Jeanclos’ Fazit: "In Sachen Sicherheit ist Frankreich das führende Land der EU geworden." Anerkennend meinte er das nicht.

Konfrontation auch in Spanien

Auch Fotografen und Kameraleute auf den Kanarischen Inseln sind empört. Seit Wochen kommen täglich mehrere Flüchtlingsboote vom afrikanischen Festland an. Weit über Tausend Flüchtlinge befinden sich derzeit im Hafen. So viele Immigranten waren es seit dem Rekordjahr 2006 nicht mehr. Doch es gibt kaum Bilder.

"Anders als bisher müssen wir nun aus einer Distanz von 150 Metern und mehr arbeiten", erklärt Javier Balauz, Freelancer, der 1995 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet worden ist. Dadurch habe er selbst mit dem Teleobjektiv nur eine dunkle Masse auf den Bildern. Das entmenschliche. Aus Einzelschicksalen würde so eine "gefährliche Invasion".

Als Innenminister Fernando Grande-Marlaska Anfang des Monats den Hafen besuchte, versammelten sich rund 20 Fotografen und Kameraleute zum Protest. Eine Kampagne auf Twitter nutzt das Schlagwort #SinCensuraPrevia ("Ohne Vorzensur"), das sich auf die Zeiten der Franco -Diktatur bezieht, als alles, was veröffentlicht wurde, zuerst durch die Hände der Zensur ging.

De facto Zensur

Emilio Morenatti, Spanien-Redakteur bei Associated Press (AP), beschwert sich über die Informationspolitik des Innenministeriums. Minister Grande-Marlaska hat der "einheitlichen Kommandostruktur" auch die zivile Hochseerettung Salvamiento Marítimo unterstellt. Auf deren Twitter-Kanal gibt es seither nur noch schöne Boote und Sicherheitsregeln für Yachten zu sehen. Einst veröffentlichten sie in Echtzeit, wo und wie viele Flüchtlinge aus Seenot gerettet und wann sie wo angelandet werden. Damit konnte die Presse arbeiten.

"In einem Telefongespräch erklärte die Pressestelle des Innenministeriums ganz offen, dass zu viele Bilder aus länderfeindliche Gruppen stärken könnten", berichtet Alonso Armada, Chef von Reporter ohne Grenzen (RoG) in Spanien. "Die Öffentlichkeit hat das Recht, informiert zu werden", sagt er. Pressefreiheit müsse über politischen Erwägungen stehen. (Stefan Brändle aus Paris und Reiner Wandler aus Madrid, 26.11.2020)