Es waren einmal die Grammys. Man verfolgte die Vergabe der wohl wichtigsten Musikpreise Amerikas – oder nicht, freute sich über die Gewinner – oder nicht. In den letzten Jahren hat sich die Dynamik, mit der Events wie die Grammys, die Oscars und Emmys popkulturell konsumiert und diskutiert werden, geändert. "Who got snubbed?", wer also bei den Preisen "übergangen" worden sei und warum, lautet nun die Frage der Fragen. Die erste Runde der Empörung beginnt bereits bei den Nominierungen. Jene für 2021 wurden vor zwei Tagen bekanntgegeben, und oh boy, es ging sogleich rund auf Twitter.

Justin Bieber, der sich mit seinem aktuellen Album Changes in der falschen Kategorie nominiert wähnt, nämlich Pop statt R ’n’ B, lassen wir jetzt mal außen vor. Der Unmut seines Landsmanns The Weeknd scheint dringlicher. Der Kanadier richtete den Grammys via Twitter aus, dass sie korrupt seien. Er fordert mehr Transparenz. The Weeknd wurde nämlich in gar keiner Kategorie nominiert, obwohl nicht nur er davon ausgegangen war, dass seine Hitsingle Blinding Lights den Award für den Song des Jahres verdient hätte. Nun kann man The Weeknd als beleidigte Leberwurst abstempeln, man kann aber auch genauer hinschauen. Worum geht es denn wirklich?

Die Diversity-&-Inclusion-Taskforce

Kollegin Nicki Minaj meint nach Durchsicht der Nominierungen die Antwort zu haben. Dass heuer Bon Iver zusammen mit Taylor Swift für den Song Exile nominiert ist, förderte eine unangenehme Erinnerung aus dem Jahr 2012 bei der Rapperin zutage: "Never forget the Grammys didn’t give me my best new artist award when I had 7 songs simultaneously charting on billboard (...). They gave it to the white man Bon Iver", schnaubte Minaj. Rassismus also. Sie befeuerte damit wieder die Diversity-Diskussion, die zuletzt generell und auch bei Preisverleihung Thema Nummer eins war. Aber hat Minaj (immer noch) recht? Hat sich seit 2012 nichts geändert?

2018, spät, aber doch, holten sich die Grammys Hilfe von außen, eine Diversity-&-Inclusion-Taskforce erklärte – überspitzt ausgedrückt – der vergebenden Recording Academy, dass es nicht nur musizierende Weiße und Männer auf der Welt gibt. Voriges Jahr sah man erste Früchte dieser lange überfälligen Erkenntnis sich bei Nominierten und Siegern niederschlagen. Auch für 2021 sind die Nominierungen divers: neun für Beyoncé (vier davon für Black Parade, eine Black-Lives-Matter-Hymne), sechs jeweils für die Popstars Taylor Swift, Dua Lipa und den Rapper Roddy Rich.

Weiße Seilschaften

Die Recording Academy ist dabei, ihre sogenannte "Voting Class", zu diversifizieren: Unter den Vertretern der Musikindustrie, die abstimmen, befinden sich nun deutlich mehr Frauen und Nichtweiße.

Doch es gibt ein Problem, das die ehemalige Chefin der Recording Academy, Deborah Dugan, die voriges Jahr wenige Tage vor Abhaltung der Grammys gefeuert wurde, umriss: Es gebe Seilschaften in der Akademie, die die beim Wahlprozess entstandenen Listen nach ihren persönlichen Interessen bearbeiten, Seilschaften, die eigentlich entscheiden würden, wer verliert und gewinnt. Und in diesen Zirkeln befänden sich natürlich nur weiße Männer.

Wenn The Weeknd also mangelnde Transparenz beklagt, geht es also eigentlich um den Vorwurf, dass die Academy Diversity nur heucheln würde, dass immer noch derselbe "Boys Club" die Zügel in der Hand hätte. Und diesen Vorwurf – und es wird sich hoffentlich weisen, ob er stimmt – sollte man zumindest ernst nehmen. (Amira Ben Saoud, 27.11.2020)