Wer zu Salafismus, Muslimbruderschaft und Terror nichts Kritisches zu sagen hat, ist nicht glaubwürdig, sagt Ruşen Timur Aksak, Medienberater und ehemaliger IGGÖ-Pressesprecher, im Gastkommentar.

"Sei solidarisch", lese und höre ich die letzten Tage sehr oft. Innermuslimische Solidarität also? Klingt doch gut. Eingedenk der Ereignisse, die sich regelrecht überschlagen, Terroranschlag, Razzia gegen mutmaßliche Muslimbrüder, Moscheeschließungen, klingt der Ruf nach innermuslimischer Solidarität doch vernünftig. Nun ja. Der Aufruf zur inneren Solidarisierung ist die austromuslimische Entsprechung zu "Hände falten, Gosch'n halten". Der Aufruf zur Solidarisierung ist dabei nicht nur heimtückisch, sondern auch Ausdruck egoistischen Kalküls Einzelner. Nur eine kleine Anekdote von vielen, vielen, die hier Platz fänden:

Als damals der Verfassungsschutzbericht 2018 herauskam, habe ich ihn natürlich mit Interesse gelesen. Im Abschnitt über islamistische Umtriebe wird anonymisiert, aber für Kenner der Szene sehr deutlich eine Person beschrieben, die aus der Muslimbruderschaft stammend sich ins salafistische Milieu radikalisiert hat. Diesen Herrn kenne ich – wie viele andere auch – noch aus einer Zeit, da er als Jungpolitiker einer linken Partei und als Schützling eines aktiven Landtagsabgeordneten firmierend sein Unwesen trieb. Ich war damals noch Journalist und hatte ein paar Mal mit ihm zu tun gehabt. Er verschwand von der Bildfläche und trat dann als bärtiger Missionar salafistischer Prägung wieder in Erscheinung.

Ruf nach Zusammenhalt

Als ich Pressesprecher der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) geworden war, entdeckte er mich auf Twitter wieder. Polemisierte ein paarmal, versuchte sogar einmal, mich einem sogenannten Shitstorm auszusetzen, und forderte mich auf, mich bei "den Muslimen" zu entschuldigen. Ein salafistischer Internet-Troll halt. Laut, aber geistlos.

Ich lese also den Verfassungsschutzbericht gerade zu Ende, als plötzlich mein Handy vibriert. Er war es. Salafisten-Saulus. Er hatte sich ebenfalls im BVT-Bericht wiedererkannt. Und er schrieb mir sinngemäß, dass es Zeit für Solidarität sei, und dass wir (sic!) Muslime jetzt zusammenhalten müssten. In einem spontanen Wachalbtraum sah ich mich schon vor dem Bundeskanzleramt mit einem selbstgemalten Schild skandieren: "Solidarität mit Salafisten-Saulus!" Und ich wollte mich gerade so richtig schön ob der Dreistigkeit ärgern, ihm eine gesalzene Antwort schreiben, ihn daran erinnern, dass er noch vor kurzem gegen mich polemisiert hatte, als es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel: Diese Leute sind berechnend, sie handeln nach egoistischer Maxime, und Solidarität ist für sie lediglich die Möglichkeit, sich selbst vor dem wachsamen Auge der Öffentlichkeit zu verstecken.

Bloße Taktik

Islamistische Akteure kritisieren den "Mainstream"-Islam, manche gehen sogar weiter, aber sobald sie Angst haben müssen, im Bannstrahl der Sicherheitsbehörden oder Medien zu sein, wollen sie von ebenjenen "Mainstream"-Muslimen geschützt werden. Da werden aus wackeren Eiferern ganz schnell handzahme Bittsteller. Der Aufruf zur Solidarität ist also nur eine Taktik, damit dieser menschliche Schutzwall ja keine Risse bekommt, weil jeder brav schweigt. Jenseits religiös-romantischer Vorstellungen von einer utopischen Gemeinschaft der Muslime gibt es für diese islamistischen Akteure nichts, außer: Kalkül und Eigeninteressen.

Der Terroranschlag von Wien ist eine Zäsur, für Österreich, aber auch für die Muslime des Landes.
Foto: APA / Barbara Gindl

Der Anschlag als Zäsur

Unser Land wird nach dem Terroranschlag von Wien nie wieder dasselbe sein. Es ist eine Zäsur. Eine Weggabelung, nicht nur, aber eben auch für die Muslime dieses Landes. Wer wollen wir sein? Freie, mündige Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, die Kritik nicht nur äußern können, sondern eben auch Selbstkritik zulassen? Oder wollen wir weiterhin im Halbschatten unserer eigenen Ängste und fehlender Courage dahinvegetieren? Salopp gesagt: Wer Identitäre, Rechtspopulismus und den Kurz’schen Kulturkampf kritisiert, aber zum Thema Salafismus, Muslimbruderschaft und Terror nichts Kritisches zu sagen hat, ist nicht glaubwürdig. Und wer glaubt, dass der Kampf gegen die Diskriminierung muslimischer Menschen in diesem Land gewonnen werden könnte, ohne dabei glaubwürdig zu sein, ist ein Narr. Oder eine Närrin eben.

Ich schreibe diese Zeilen auch deshalb, weil ich weiß, dass gerade viele akademisch gebildete Aktivisten und Aktivistinnen, Lehrer und Lehrerinnen, Politiker und Politikerinnen muslimischer Konfession sich ähnliche Gedanken machen. Sie sind hin- und hergerissen zwischen dem Sog der Solidarisierung, der sich falsch anfühlt, und dem Sturm der muslimischen Selbstkritik, der jenseits dieses Sogs auf uns wartet. Ich werde nicht lügen und sagen, die kommenden Jahren werden einfacher. Aber ich fahre lieber reinen Gewissens in einen Sturm, bevor ich mich dem altbekannten Sog der Solidaritätsfalle ergebe, der sich damals wie heute falsch anfühlt, weil er das ist: falsch.

Echte Solidarität

Ohne Solidarität geht es nicht. Natürlich. Aber echte Solidarität basiert nicht auf Banden von Herkunft, Ethnie oder Religion, sondern auf gemeinsamen Werten. Schulde ich Politikern und Seilbahnbetreibern Solidarität, obwohl sie die Causa Ischgl mitzuverantworten haben, nur weil ich auch aus Tirol bin? Schulde ich jungen Austrotürken Solidarität, obwohl sie es für eine gute Idee halten, in eine Kirche zu stürmen und zu randalieren, nur weil wir alle türkischer Herkunft sind? Schulde ich obskuren, islamistischen Akteuren Solidarität, obwohl ich sie noch nicht einmal als Nachbarn haben wollen würde, nur weil wir allesamt das Haupt gen Mekka neigen?

Nein. Nein. Nein.

So wie wir den antimuslimischen Rassismus nicht allein werden bewältigen können, sondern nur in einem solidarischen Miteinander jenseits konfessioneller Grenzen. So werden wir diese Solidarität auch nur verdient haben, wenn sich die Gesellschaft, die Menschen darauf verlassen können, dass wir uns ehrlich und gewissenhaft mit unseren eigenen Sünden, unseren eigenen Dämonen in Form extremistischer Narrative auseinandersetzen. (Ruşen Timur Aksak, 27.11.2020)