Die beiden liefern sich ein 90-minütiges Sprechduell, das Drehbuch kommt von Daniel Kehlmann. Der Film basiert auf seinem Theaterstück "Heilig Abend"

Foto: Arte, ZDF, Sandra Hoever

Plant die Philosophieprofessorin Judith (Sophie von Kessel) einen Bombenanschlag? Das soll der Polizist Thomas (Charly Hübner) in "Das Verhör in der Nacht" herausfinden.

Foto: Arte, ZDF, Sandra Hoever

Es ist Weihnachten, kurz vor 21 Uhr verlässt die Philosophieprofessorin Judith ihr Hotelzimmer, sie will mit dem Taxi zu ihren Eltern. Wie jedes Jahr. Aber dieses Jahr wird nichts aus der gemeinsamen Feier. Vor dem Hotel wird Judith aufgehalten und von einem Beamten vom Staatsschutz zurück in ihr Zimmer gebracht.

"Dauert nicht lang", meint der Polizist (Charly Hübner) zu Beginn jovial lächelnd. Wohl wissend, dass die Unterredung wohl doch nicht so schnell zu Ende sein wird. Was folgt, ist ein langes, aufreibendes Verhör, ein Dialog oder vielmehr ein verbaler Schlagabtausch zweier ebenbürtiger Gegner, bei dem es am Ende keine Gewinner oder Verlierer gibt.

Drehbuch von Kehlmann

Das Verhör in der Nacht, zu sehen am Freitag im Hauptabend auf Arte und kommenden Montag dann um 20.15 Uhr im ZDF, basiert auf dem Theaterstück Heilig Abend von Daniel Kehlmann. Es wurde 2017 im Wiener Theater in der Josefstadt mit Maria Köstlinger und Bernhard Schir in den Hauptrollen uraufgeführt, 2018 war das Stück dann am Residenztheater in München zu sehen. Für die TV-Adaptierung lieferte Daniel Kehlmann (Vermessung der Welt, Tyll, Ich und Kaminski) auch das Drehbuch. Regie führte Matti Geschonneck, der unter anderem auch für die Verfilmung von Juli Zehs Roman Unterleuten verantwortlich war.

In diesem TV-Kammerspiel geht es grob gesagt um Gewalt, Unterdrückung, Ideologien, um das Dilemma zwischen Freiheit und Sicherheit und die Rechte des Individuums versus die des Staates. Und darum, ob Gewalt als Möglichkeit von Protest gegen einen Staat legitim ist. Themen also, mit denen sich die Philosophin Judith, dargestellt von Sophie von Kessel, auskennt, sich seit Jahrzehnten intensiv beschäftigt.

Wo ist die Bombe?

Nur in der Theorie? Oder ist sie bereit, für ihre politische Haltung und ihre Überzeugungen auch weiterzugehen? Und wenn ja, wie weit? Nimmt sie dafür auch in Kauf, andere zu verletzen, gar zu töten? Judith wird vom Staatsschutz verdächtigt, gemeinsam mit ihrem Exmann einen Bombenanschlag geplant zu haben, und zwar schon bald, sehr bald. Der Polizist, von ihm kennen wir nur seinen Vornamen Thomas, soll ihr ein Geständnis entlocken, die Zeit läuft. "Wo ist die Bombe?", will Thomas wissen. Aber gibt es sie überhaupt? Schon länger werden sie und ihr Exmann observiert, ihr Handy abgehört, die Festplatte des Computers durchforstet, ihre Vergangenheit abgeklopft, ihre Reisen nach Bolivien und Chile als Indiz ihrer politischen Radikalisierung gewertet.

Er weiß (fast) alles von ihr: vom Fechtunterricht als Kind über das gespannte Verhältnis zu ihren Eltern bis hin zu den Affären ihres Exmannes. Er kennt all ihre Aufsätze, ihre Doktorarbeit. "‚Strukturelle Gewalt versus revolutionäre Gewalt‘. Wenn man liest, was Sie so schreiben, dann hört man tatsächlich die Rote-Armee-Fraktion", sagt er einmal. "Ein Gedankenspiel" für ein Seminar, kontert sie, und für eine politische Meinung könne sie nicht zur Verantwortung gezogen werden. Noch ist nichts passiert.

Im Namen der Verdammten

Judith zitiert Frantz Fanon ("Mit tz", wundert sich da Thomas, "was soll das denn?") und dessen Gewaltthesen im Namen der Verdammten dieser Erde, referiert lange über die Uranausbeutung im Niger, über Migration, Kolonialisierung und über gemachte Armut. Aber macht ihre Gesinnung sie zur Terroristin?

Sophie von Kessel und Charly Hübner liefern einanderein über weite Strecken spannendes Sprachduell in Echtzeit, das dem Zuseher einiges an Konzentration abverlangt. 90 Minuten lang werden politische Argumente verhandelt, wird miteinander geplänkelt, sogar geflirtet und auch Privates geteilt.

Judith ist zu Beginn kühl distanziert, sie wird aber immer schlagfertiger, je mehr Thomas sie bedrängt und auch durch seine körperliche Präsenz unter Druck setzt. Sie bleibt sich scheinbar treu, auch als er sie mit einem angeblichen Geständnis ihres Exmannes in die Enge treiben will.

Im Theaterstück dramatisiert eine Uhr den Wettlauf gegen die Zeit, auf dieses Stilmittel verzichtet der Film. Das tut dem Stoff gut, dieses Symbol des Countdowns braucht es im Fernsehen nicht. Die Spannung ergibt sich durch die Nahaufnahmen der Gesichter, Augen, Hände. Und daraus, dass sich der Autor Daniel Kehlmann in diesem Duell auf keine der beiden Seiten stellt. (Astrid Ebenführer, 27.11.2020)