Die Welt zeigte sich vor 30 Jahren menschlich schwer enttäuscht, als sich herausgestellt hatte, dass Milli Vanilli auf ihren Hits keinen Piep selber gesungen haben.

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Heuer passierte es Semino Rossi. Der gelockte Schlagerant betrat im Juli die Bühne der ARD-Sendung "Schlager, Stars & Sterne", intonierte – doch es kam nichts. Stille. Das Playback war verreckt. Gastgeber Florian Silbereisen kommentierte selbstironisch mit "Live is live", blöd, aber wurscht. Das Schlagerpublikum weiß, dass da nicht wirklich gesungen wird, nicht nur deshalb gilt diese Heile-Welt-Musik als verlogen. Immerhin singt Rossi auf seinen Platten selbst.

Vor dreißig Jahren und ungleich größerem Publikum war so etwas noch ein Riesenskandal. Damals flog auf, dass Milli Vanilli keinen Piep selber taten, nicht auf Platte, nicht auf der Bühne.

Das Popduo bestand aus Fab Morvan und Rob Pilatus und war vom deutschen Produzenten Frank Farian entdeckt und produziert worden. Der hatte in den 1970ern mit der Gruppe Boney M. einen Millionen-Seller verbucht, auch deren Mitglieder waren eher Gesangsdarsteller als Sänger.

Als Farian merkte, dass Morvan und Pilatus hübsch hopsen aber nicht singen konnten, engagierte er andere für die Plattenaufnahmen. 1989 wurde das Debüt der beiden unter dem Titel Girl You Know It’s True auch in den USA auf den Markt gebracht und schlug ein: Sechs Millionen Alben verkauften sich, Singles wie Girl I’m Gonna Miss You verstopften monatelang und weltweit die Charts. Es folgte eine Grammy-Nominierung und 1990 der Triumph in der Kategorie "Best New Artist".

Bruchlandung

Mit dem Kopf in den Wolken bezeichnete sich Pilatus im Time-Magazin als talentierter als Bob Dylan, Paul McCartney und Mick Jagger. Doch Hochmut geht dem Fall voraus. Der Grammy wurde ihnen aberkannt, als sich bestätigte, was schon vermutet worden war. Weil die beiden in Interviews so schlecht Englisch sprachen, wunderte sich die Branche, wie sie so eloquent singen konnten. Der Höhenflug endete als Bruchlandung unter lauter Anteilnahme menschlich enttäuschter Medien. Im November 1990 feuerte Farian die Band.

Milli Vanilli killte der Vertrauensbruch, den das Publikum erlitten hatte, dabei klaffen Sein und Schein in der Popmusik immer wieder weit auseinander: Das zu den besten Alben aller Zeit zählende Pet Sounds von den Beach Boys war ebenfalls keine Gruppenleistung – keine der Beach Boys. Zwar sangen sie darauf, eingespielt hat es aber eine Studio-Band, die Wrecking Crew.

Welthits um ein besseres Monatsgehalt

Das waren begnadete Musikerinnen wie Carol Kaye, Hal Blaine oder Tommy Tedesco, die Dutzende Welthits für weniger begnadete eingespielt haben: Mr. Tambourine Man von den Byrds, California Dreamin’ von den Mamas & The Papas, Mrs. Robinson von Simon & Garfunkel ... – während andere Millionen verdienten, gingen sie mit einem besseren Monatsgehalt nach Hause und wurden auf den Platten oft nicht einmal erwähnt. Der Schein des Popstars sollte gepflegt, der Geniegedanke der Kunst aufrechterhalten werden.

Im Jahr 1995 klagten die Rolling Stones den deutschen Spiegel, der behauptet hatte, dass Teile ihres Liveprogramms vom Band kämen. Als Beweis wurden Mitschnitte von fünf Konzerten angeführt, auf denen die Stones jedes Mal im selben Song an derselben Stelle patzten. 1996 nahm der Spiegel den Vorwurf zurück: war doch alles live, die Fehler seien dem Tontechniker zuzuschreiben. Kann man glauben, muss man aber nicht.

Die schnaufende Britney

Heute wird der Schein breit akzeptiert. Vor allem im vermeintlichen Live-Kontext entstand eine Toleranz, der das Zustandekommen einer Darbietung nicht mehr so wichtig ist wie sein Resultat und dessen Wirkung. Viele aus der Pop-Oberliga kommen ohne technische Unterstützung nicht über ihre kraftraubenden Shows, bei denen gleichzeitig getanzt, geklettert und gesungen wird.

Eine Britney Spears schnaufte sich zum Gotterbarmen durch Auftritte, bei denen sie ihre Lippen kaum je synchron zu dem bewegte, was aus den Boxen schallte. Die Faszination am Glamour ging bei ihr bloß eine Tür weiter: zum Trash. Hauptsache es macht Spaß.

Was die deutsche Synthie-Pop-Gruppe Kraftwerk bei ihren Konzerten an den Manualen macht, weiß nur sie selbst. E-Mails abrufen? Ebayen? Egal. Das Gesamtkunstwerk zählt, ein Reinheitsgebot im Sinne der ehrlichen Arbeit wird am ehesten noch im Rock eingefordert.

DJ Mausklick

Die DJ-Kultur hat sich vom begnadeten Selektieren zum Abrufen vorgefertigter Mixe per Mausklick hin verändert. Im Hip-Hop verdienen die Produzenten an den Reglern sehr oft viel besser als die Rapper am Mikrofon. Viele Stars der Großraumdisco stehen mehr oder weniger offen dazu, Ghost-Produzenten zu beschäftigen. Die Frage, ob EDM-Kaiser David Guetta je ein Studio von innen gesehen hat, ist längst zum Running Gag verkommen: Who cares? Die Grenzen von Kollaboration zum Auslagern ganzer Produktionen sind fließend.

Dass die ukrainische DJane Nastia auf Facebook stolz ihren Ghost-Produzenten bei der Arbeit im Studio zeigt und von Kommentaren darauf aufmerksam gemacht werden musste, dass das eher nicht die Idee sei, ist nur ein geistfreies Hoppala in einem eigenen Wirtschaftszweig. Auf einschlägigen Seiten kann man Produzenten je nach angepeilter Musikrichtung mieten, samt beglaubigten Verträgen für den Fall, dass daraus zufällig ein Hit werden sollte. Dann werden die Programme angeworfen und nach ein paar Tagen geliefert. Sexy.

MP3-Akkordeon

Selbst in der vermeintlich bodenständigen Volksmusik wird geschwindelt. Da gibt es Ziehharmonikas mit eingebauten MP3-Playern, mit denen hunderte Gstanzln abrufbar sind. Hauptsache, das Publikum schunkelt, jauchzt und hat einen Grund, die Tracht auszuführen. Die Musikerdarsteller müssen bloß halbwegs glaubwürdig tun und nüchtern bleiben.

Für Milli Vanilli kam diese Toleranzverschiebung zu spät. Rob Pilatus starb 1998 im Alter von nur 32 Jahren an einer Überdosis aus Drogen und Alkohol, Fab Morvan tingelt seit Jahren zwischen Reality-TV und Nostalgieshows. The Real Milli Vanilli wollte niemand hören. (Karl Fluch, 27.11.2020)