Überschreitung der Realität, Las-Vegas-Style: Eine Szene aus Peter Mettlers "Gambling, Gods & LSD".

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Man kann sich beim Wechsel von einem Zimmer zum nächsten, wie das der US-Komiker Albert Brooks einmal nahegelegt hat, einen Anzug oder ein Kleid anziehen und auf diese Weise Abwechslung in den Lockdown-Alltag bringen. Gegen stärkere Formen von Lagerkoller, die mit der Einengung von Erfahrungsräumen einhergehen, bieten sich Filme an – und da bevorzugt solche, die den Zuschauer mit immersiver Wucht oder einer ausgeklügelten Poetik mit anderen Welten konfrontieren. Die Fähigkeit des Mediums lag von Beginn an in der Erweiterung des sinnlichen Wahrnehmungsapparats, und damit auch in der Teilhabe der Glücksmomente von anderen. Filme – wenn auch eingeschränkt in der Heimkinovariante – sind immer schon potenzielle Grenzüberschreitungen. Hier fünf ausgewählte Routen.

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Wie lässt sich der dämmergrauen Realität entkommen? Der kanadisch-schweizerische Filmemacher Peter Mettler hat mit seinem Essayfilm Gambling, Gods & LSD eine der betörendsten Arbeiten zur ewigen Suche nach Transzendenz realisiert. Zwischen religiöser Verzückung, erhabenen Naturschauspielen, Spielsucht oder Drogentrips sucht er Antworten darauf, auf welch zahlreichen Wegen Menschen Grenzüberschreitungen suchen. Dabei vergisst er selbst nicht darauf, den im Modus eines Roadtrips erstellten Film als synästhetische Erfahrung zu gestalten. Er nannte seinen Film einen "futuristic fantasy room of the past": Zwischen indischen Brahmanen, Rave-Ekstasen von Jugendlichen oder nur einem rauschenden Gletscherbach in der Natur öffnet er die Pforten der Wahrnehmung. (bei Mubi zu streamen)

doclisboafestival

Es wäre spannend gewesen, wie Jonas Mekas, der 2019 verstorbene König des US-Underground-Films, das Eindringen der Pandemie in New York festgehalten hätte. Vermutlich hätte er, der sich einmal als "Propagandafilmer des Glücks" bezeichnet hat, noch im Lockdown einen "uplifting moment", einen dieser verstohlenen Augenblicke der Wonne und Euphorie gefunden, aus denen auch sein fast fünfstündiger Film As I was Moving Ahead Occasionally I Saw Brief Glimpses of Beauty besteht. Man kann ihn als Summe eines (auf 16-mm-Film dokumentierten) Lebens bezeichnen, in dem das Ephemere – und sei es ein Rausch unter Freunden – zu höchsten Ehren kommt. Ein Film über nichts, so Mekas, Kino als pures Glück, sagen wir. "Either you get it now, or you dont get it at all." (auf DVD bei jonasmekas.com)

WorleyClarence

Kathryn Bigelows Tech-Noir-Drama Strange Days ist zwar das Gegenteil von einem Feel-Good-Movie (sorry!), doch was die Visualisierung von mentalen Erfahrungen anbelangt, vermag auch nach 25 Jahren kaum ein Film an diesen Thriller heranzureichen. Als härtere Medizin gegen intensitätsarme Zeiten empfiehlt es sich daher, mit dem Schwarzhändler Lenny Nero (Ralph Fiennes) in das grimmige Los Angeles von 1999 einzutauchen. iPhones gab es damals keine, dafür eine illegale Technologie namens Squid, die sich direkt mit der Großhirnrinde verbindet und den Benützer mit dem Erfahrungshorizont eines anderen Menschen kurzschließt. Lenny kommt einer Verschwörung auf die Spur, die von einer Vergewaltigungsopfer zur Polizeibrutalität gegen einen schwarzen Rapper führt – nicht der einzige Aspekt dieses furios inszenierten Films, der bis heute aktuell geblieben ist. (auf DVD/Bluray erhältlich)

Frantz Duncombe

Chris Markers Essayfilm Sans soleil ist ein Film über den Trost durch Erinnerung und passt schon deshalb hervorragend in diese aufgestaute Zeit. Sein Vorteil: Man kann mit ihm verreisen und die Reise zeitgleich schon reflektieren. Also auf ins Gewusel von Tokio und dort – dem japanischen Begriff des "mono no aware" gemäß – wehmütige Hingabe zu flüchtigen Dingen entwickeln! Marker verknüpft Reisen und Blicke auf nicht-westliche Kulturen (Japan und Afrika – genauer: Guinea-Bisseau und die Kapverdischen Inseln). Er interessiert sich für die Umstände, unter denen Bilder entstehen, und dafür, wie diese zu Erinnerungen gerinnen. Markers eigene Aufnahmen (darunter viele Katzen und Eulen) gleichen Postkarten aus der Vergangenheit. "Wir schreiben Erinnerung um, so wie Geschichte umgeschrieben wird." (bei Mubi)

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In der Eröffnungsszene seines mit einem Fingerschnipp Kategorien sprengenden Films Holy Motors schließt Leos Carax eine Tapetentür auf, dahinter verbirgt sich ein ausverkaufter Kinosaal. Ob Ode an die Möglichkeiten des Films (an der Schwelle zum digitalen Zeitalter) oder an jene des Körpers (im Übergang zum posthumanen Gestaltwandler), verblüffend muss man das Stationendrama jedenfalls nennen: Denis Lavant muss als mysteriöser Monsieur Oscar zehn Aufträge erfüllen, die auch Träume sein könnten. Carax tritt den Beweis an, dass es nur einen schöpferischen Geist braucht, um das Groteske früherer Zeiten mit dem Fantastischen von morgen zu versöhnen. Wo sonst trifft eine wie ein Irrlicht tanzende Motion-Capturing-Figur mit einer nostalgischen Musical-Prinzessin wie Kylie Minogue zusammen? (u. a. auf iTunes) (Dominik Kamalzadeh, 27.11.2020)