Der Netflix-Seriencharakter Beth Harmon schafft es aus dem Waisenhaus ...

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... in den Schacholymp – und sorgt für einen neuen Hype um das Strategiespiel.

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In den 70er-Jahren machte es Bobby Fischer vor: Das US-amerikanische Enfant terrible des Schachs spielte nicht nur die Riege der zuvor überlegenen sowjetischen Schachgroßmeister an die Wand. Der geniale Exzentriker, der das Brett nach dem WM-Sieg gegen den Russen Boris Spasski im Jahr 1972 an den Nagel hängte, popularisierte das Schachspiel im Westen de facto im Alleingang. Jedes Qualitätsblatt unterhielt fortan eine Schachspalte, sogar das Fernsehen strahlte Schachsendungen aus, und Millionen von Vätern führten ihre Söhne (seltener: Töchter) in die Anfangsgründe des Spiels der Könige ein.

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Ein halbes Jahrhundert später ist es die US-Amerikanerin Elisabeth Harmon, die Fischers Leistung nicht nur auf dem Schachbrett wiederholt. Auch ihr Erfolg wird weltweit rezipiert und treibt die Anzahl der online auf Schachservern aktiven Spieler ebenso in ungeahnte Höhen wie den Verkauf altmodisch-analoger Holzschachbretter.

Der Unterschied: Beth Harmon ist nicht real, sondern die fiktive Hauptfigur der Serie "The Queen's Gambit". Die seit 23. Oktober auf Netflix ausgestrahlten sieben Folgen basieren auf dem Roman von Walter Tevis aus dem Jahr 1983 und mauserten sich binnen weniger Wochen zur erfolgreichsten von der Streamingplattform selbst produzierten Miniserie überhaupt. 62 Millionen Menschen ließen sich laut Netflix bisher auf die Geschichte einer jungen Frau ein, die es in den 60er-Jahren vom Waisenhaus bis auf den Gipfel der professionellen Schachwelt schafft – und dabei nebenbei ihre unverschuldete Medikamentenabhängigkeit besiegt.

Trailer zur Serie "Queen's Gambit".
Netflix

Im Gegensatz zu den meisten anderen filmischen Darstellungen des königlichen Spiels erhielt "The Queen's Gambit" auch unter Schachspielern ausgezeichnete Noten. Mit Garri Kasparow war bei der Produktion ja auch ein Ex-Weltmeister als Berater an Bord. Das macht sich durch atmosphärisch treffend dargestellte Turnierszenen sowie auf berühmten Vorbildern basierende Partien bezahlt, die Aficionados nun nachträglich aus jenen Einstellungen rekonstruieren, in denen der Zuschauer nur Hände und Schachfiguren zu sehen bekommt.

Schach ohne Klischees

Dass man den Schauspielern als Kenner trotz kolportierten Figuren-Zieh-Trainings den Schachprofi bewegungstechnisch nicht wirklich abkauft und dass sich auch mit weltmeisterlicher Beratung hier und da kleine Unstimmigkeiten einschlichen – sei's drum. Wichtiger dürfte die Tatsache sein, dass "The Queen's Gambit" massentauglich gleich zwei Klischees beseitigt, die den Public Relations des Spiels seit Jahrzehnten wie ein Mühlstein um den Hals hängen: Schach sei erstens nichts für Frauen und werde zweitens nur von bebrillten Nerds praktiziert. Die tatsächlich überraschend niedrige Zahl aktiver Schachspielerinnen, die erst seit einigen Jahren langsam steigt, war beim Kampf gegen dieses Mauerblümchen-Image natürlich keine große Hilfe.

So passt die attraktive, selbstbewusste Beth Harmon, die den Männern in allem überlegen ist und zugleich den Esprit der Roaring Sixties versprüht, nicht nur perfekt zum Zeitgeist. Ihre virtuelle Existenz ist zugleich Balsam auf die Seelen von Millionen Schachspielern, die nie damit gerechnet hätten, dass ihre Lieblingsbeschäftigung einmal so cool rüberkommen könnte. Ein völlig unverhoffter Imagewandel, der noch dazu mitten in die zweite Welle eines Lockdown-bedingten Online-Schach-Booms fällt und diesem weiteren Schwung verleiht.

Auch Weltmeister Magnus Carlsen springt auf.

Schon vergangenen Frühling war unter Schachstreamern veritable Goldgräberstimmung ausgebrochen. Auf der Plattform Twitch, sonst vor allem für E-Sport-Streaming bekannt, trendete die Übertragung von Schachpartien mit kurzer und kürzester Bedenkzeit, die Live-Zuseher-Zahlen wuchsen in die Hunderttausenden – und zwar nicht etwa bei einer WM, sondern bei Spaßevents wie den "Pogchamps", wo Influencer und Streamer anderer Sparten ihre (enden wollenden) schachlichen Fähigkeiten in unterhaltsamen Matches erproben.

Jahrtausendealter E-Sport

Zwar gibt es auch mahnende Stimmen, wie jene des deutschen Großmeisters und Turiner Philosophieprofessors Jan Michael Sprenger. Er sieht das altehrwürdige Schach nun endgültig in den Sog der banalisierten Kulturindustrie geraten und dabei seiner intellektuellen Qualitäten verlustig gehen. Die allgemeine Begeisterung übertönt solche Einwände aber mühelos.

Und auch dem Weltschachbund Fide bleibt nicht verborgen, dass sich gerade ein einmaliges Zeitfenster für die Popularisierung des Spiels geöffnet hat: Kürzlich gab man bekannt, dass die kommende Weltmeisterschaft im klassischen Schach nicht mehr von der obskuren russischen Firma World Chess ausgerichtet wird. Stattdessen wurden die Übertragungsrechte an die US-amerikanische Plattform Chess.com vergeben, die dafür mit Twitch kooperieren wird.

Schach, gar nicht matt: Die Plattform Chess.com zählt rund 46 Millionen Spieleraccounts, auf Twitch erreichen Schachstreams Hunderttausende.

Das kalifornische Unternehmen Chess.com ist die weltweit größte Online-Schach-Plattform, laut Eigenangaben existieren rund 46 Millionen Spieleraccounts. Schon die erste Lockdown-Phase ließ die Zahl der aktiven Nutzer der Plattform durch die Decke gehen. Tendenz während Corona-Welle Nummer zwei: weiterhin stark steigend.

Lockdown-Profiteure

"Wir sind optimistisch, dass wir 2021 das meistverfolgte WM-Match der vergangenen Jahrzehnte erleben werden", ließ Fide-Präsident Arkadi Dworkowitsch angesichts dessen jüngst vernehmen. Bereits bei der vergangenen WM 2018 in London hatten Millionen Menschen die Partien zwischen Weltmeister Magnus Carlsen und Herausforderer Fabiano Caruana live im Internet verfolgt. Mit Chess.com als offiziellem Broadcaster und Twitch als Multiplikator sollen diese Zahlen anno 2021 um ein Vielfaches übertroffen werden. Das wiederum würde sich selbstverständlich höchst positiv auf den Werbewert des Schachsports auswirken, dessen Profis im Vergleich zu anderen Publikumssportarten bislang nur recht bescheidene Preisgelder lukrierten.

Wenn die Übung gelingt, wird sich die enthusiasmierte Schachwelt dafür nicht zuletzt bei der schicken Beth Harmon und ihren Erfindern bedanken dürfen. Schachweltmeister Magnus Carlsen weiß das natürlich. Der Norweger postete jüngst ein montiertes Foto auf seinem Instagram-Account, auf dem er Beth am Brett gegenübersitzt. Sein Kommentar: "Ich glaube, es wäre eine knappe Sache." (Anatol Vitouch, 27.11.2020)