Elena Ferrante, "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen". Deutsch von Karin Krieger. 24,90 Euro / 415 Seiten. Suhrkamp, 2020

Cover: Suhrkamp

Fünf Jahre lang haben Elena-Ferrante-Fans auf einen neuen Roman gewartet: La vita bugiarda degli adulti ist 2019 im italienischen Original und dieses Jahr ins Deutsche übersetzt erschienen.

Es konnte nicht ausbleiben, dass das Buch an Ferrantes großen Neapel-Vierteiler über das ungleiche Freundespaar Lila und Elena gemessen wird: Diesmal ist die Geschichte, mit einer klaren Protagonistin, einfacher konstruiert, kürzer, psychologisch deswegen nicht weniger anspruchsvoll. Sie dreht sich um drei Jahre im Leben eines heranwachsenden Mädchens, das sich am Schluss selbst ermächtigt, auf eine Art, die das Gegenteil von ästhetisch oder moralisch "schön" ist.

Selbsterfüllende Prophezeiung

Für Giovanna endet die Kindheit, als sie hört, dass ihr zärtlich geliebter Vater von ihr abschätzig sagt, sie beginne ihrer Tante Vittoria, seiner Schwester, zu ähneln, ein brutales Urteil, ist diese Tante – deren Gesicht auf den Familienfotos ausradiert ist – doch der Inbegriff der Hässlichkeit und Vulgarität. Eine Putzfrau in der "Zona Industriale", während die Eltern Giovannas es auch geografisch nach oben – in einen oben gelegenen Stadtteil Neapels – geschafft haben.

Die Worte des Vaters scheinen zur selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden: Giovanna will die Tante nicht nur kennenlernen, sie hält den Kontakt, obwohl sich Vittoria im Grunde als genauso gemein und roh präsentiert, wie von den Eltern beschrieben. Und Giovanna beginnt ihre Familie durch die Augen Vittorias zu sehen, will später selbst hässlich und vulgär sein. Das vermeintliche Familienidyll der Mittelstandsfamilie ist da längst zerbrochen.

Wieder geht es um Kindheit, Erwachsenwerden, die Heuchelei der Erwachsenen, Betrug, Verrat, Freundschaft, Liebe, Hässlichkeit, Schönheit, Brutalität, soziale Unterschiede und deren Sprachen, in einem Neapel, das dieses Unten und Oben auch topografisch reflektiert.

Manche mögen der Autorin – beziehungsweise jenen, die hinter dem Pseudonym Elena Ferrante stecken – vielleicht sogar vorwerfen, dass sie sich des gleichen Instrumentariums bedient wie in den überaus erfolgreichen Lila-und-Elena-Romanen. Aber es ist eine ganz andere, neue Geschichte. (Gudrun Harrer, 6.12.2020)