Jens Malte Fischer, "Karl Kraus. Der Widersprecher". 45,– Euro / 1104 Seiten. Zsolnay-Verlag, 2020

Cover: Zsolnay

"Harmlose Mordskerle waren es, gemütliche Kanaillen, Folterknechte aus Hetz. Losgelassene Simandeln, der Hausfrauenzucht entsprungene Sumper, bleiche Kujone, die in Reglement und Fibel Ersatz für die Potenz suchen, haben im Pallawatsch der Quantitäten sich einen Weltmullatschak verstattet (…) Von feigen Philistern, die kein Blut sehen können, ist es in Strömen vergossen worden."

Darum muss man heute Karl Kraus noch immer (und wieder) lesen. Die Wucht dieser Sätze aus dem "Nachruf" auf das in einem frivol angezettelten Weltkrieg untergegangene Habsburgerreich wirkt auch noch hundert Jahre später. Der "hohe Ton" der Empörung über ein Menschheitsverbrechen kontrapunktiert mit Austriazismen – "Simandl", "Pallawatsch", "Mullatschak", die junge Leserinnen und Leser heute wohl googeln müssten.

Riesenwerk

Wer einmal in das Riesenwerk von Karl Kraus eingetaucht ist, wird dahin meist immer wieder zurückkehren. Wer genauer wissen will, wer Kraus gewesen ist, wie er lebte, arbeitete, wohnte, liebte, starb, woher er seinen Impetus, seine Unbedingtheit, aber auch seine Irrtümer bezog, ist gut versorgt mit der 1100-Seiten-Biografie von Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher.

Dem Schriftsteller-Rezensenten Daniel Kehlmann erschien das Buch weniger als Biografie denn als eine Gesamtschau allen Wissens über Karl Kraus, "das ultimative Standardwerk". Das trifft es gut.

Was aber heißt, dass man schon einiges von Kraus gelesen haben sollte, um die Detailschilderung einer Kultur in ihrer Hoch- und Spätblüte mit einem goldgeränderten Personenregister schätzen zu können. So etwa, als Kraus 1913 mit seiner großen Liebe, Baronin Sidonie Nádherná von Borutín, im Café Imperial saß, ein Herr an den Tisch trat und sagte: "Ich wollte Sie persönlich kennenlernen. Mein Name ist Franz Kafka."

Dem Kampf gegen den Krawalljournalisten Imre Békessy ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Man sollte sich aber die Mühe machen und diese großartigen Polemiken nachlesen. Und sei es, um zu erkennen, wie viel davon in hundert Jahren gültig geblieben ist. (Hans Rauscher, 16.12.2020)