Rye Curtis, "Cloris". Übersetzt von Cornelius Hartz. 24,– Euro / 352 Seiten. C.-H.-Beck-Verlag, 2020

Cover: C.H. Beck

202 0wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem ein Urlaub an einem Kärntner See das Exotischste war, was der Sommer zu bieten hatte. Umso besser, wenn man sich Lockdown-kompatibel von zu Hause aus auf ein Abenteuer in die Rocky Mountains begeben kann. Dorthin schickt der US-amerikanische Schriftsteller Rye Curtis die betagte Cloris Waldrip in seinem Erstlingswerk Cloris.

Die 72-jährige Texanerin überlebt als Einzige den Absturz eines Kleinflugzeugs in den Bitterroot Mountains. Hier muss sie erst mit dem Tod ihres Ehemannes klarkommen. So viel sei gesagt: Eine schöne Leich dürfte er nicht sein. Er wurde aus dem Flugzeug geschleudert und auf einem Baum aufgespießt. Ähnlich grauslich ist der Tod des Piloten.

Der strengreligiösen Methodistin bleibt auch nichts erspart. Allerdings wohnt ihren Schilderungen eine gewisse Komik inne. Anders wäre die Katastrophe vielleicht gar nicht auszuhalten. Cloris Waldrip macht sich auf, um Hilfe zu suchen. Anfangs noch mit akkurater Dauerwelle, intakten Strümpfen, Handtasche und einer handlichen Bibel.

Schlechte Überlebenschancen

Zeitgleich beginnt die alkoholkranke Rangerin Debra Lewis, die ihren Dienst mit wenig Begeisterung, dafür viel Merlot, versieht, nach ihr zu suchen. Sie stößt auf Spuren, die Cloris Waldrip in der Wildnis hinterlässt – und ist auch dann noch davon überzeugt, dass sie lebt, als die ganze Welt sie für tot hält.

Cloris Waldrips Überlebenschancen sind schlecht. Sie verliert einen Teil ihres Gebisses und beinahe ihr Leben in einem Bach und trifft auf einen Berglöwen. Mitten im Nirgendwo kreuzen sich ihre Wege mit einem vom FBI gesuchten Verbrecher. Sie ahnt nicht, wer der junge Mann ist, der ihr das Leben rettet – und ist überzeugt, dass er von Gott geschickt wurde.

Cloris beschreibt eine Frau, die erkennt, dass es im Leben nicht nur Schwarz und Weiß gibt, dass sich nicht immer ein eindeutiges moralisches Urteil fällen lässt – und dass eine Bibel am Ende auch nur Brennmaterial ist. Cloris Waldrip und Rangerin Debra Lewis treffen einander nie, zeigen aber beide auf ihre Art: Letztendlich geht es darum, irgendeinen Weg zurück ins Leben finden. Das ist auch in Zeiten einer Pandemie eine wichtige Erkenntnis.(Franziska Zoidl, 21.12.2020)