Die Rollkoffer proben den Aufstand: Mit dem vorläufigen Kollaps der Tourismusindustrie geraten auch die Trolleys pandemiebedingt ins Abseits.

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Kulturbeutel

Seine Karriere begann das Reise-Necessaire als unverwüstlicher Begleiter des zu ewiger Wanderschaft verurteilten Handlungsreisenden. Komfortabel gepolstert, mit zahlreichen Fächern versehen, die sich ausklappen ließen wie ein Burgtheater-Spielplan, lag der Kulturbeutel – mit obszön klaffendem Zipp – neben Emaille-Waschschüsseln oder auf spiegelndem Porzellan.

Der Inhalt des Necessaires war hygienisch unverzichtbar. Doch er half auch mit, eine gedankliche Brücke zu der in der Fremde verblassenden Idee von Behaglichkeit zu errichten. Der Knipser, die Bürste, der Wattebausch, die Lotion: Sie alle sollten dem Individuum helfen, sich an den entscheidenden, weil zu Verfinsterung und Geruchsbildung tendierenden Körperstellen sauber und somit verkehrsfähig zu halten.

Darüber hinaus sollte das Necessaire das moderne, in Einsamkeit und Anonymität verstoßene Individuum mit der Unwirtlichkeit von Hotelzimmern versöhnen. Das Reiseverbot des Lockdowns verwandelt den Kulturbeutel in einen Gegenstand vollendeter Nutzlosigkeit. Es sei denn, sein Anblick erfreut abseits aller Hygienezwecke mit der Abbildung ziehender Kraniche oder dem Konterfei eines Disney-Zwergs.

Jausenbox

Ihr Inhalt löste bei hungrigen Schulkindern seit jeher widerstreitende Gefühle aus. Zumeist bildete die lukullische Fracht einer solchen Dose, deren Geheimnis in der "Großen Pause" gelüftet wurde, weniger kindliche als vielmehr die Vorlieben beflissener Eltern ab. So wurde der Genuss eines Leberwurstbrotes zum Beispiel mit der Beigabe von Apfelstücken ebenso säuerlich wie teuer erkauft. Dadurch, der Gesundheit wegen, kam auch der Tauschhandel mit Schulkameradinnen, mangels konvertierbarer Leckerbissen, häufig zum Erliegen.

Heute, in pandemischen Tagen, sorgt der Lockdown mit seiner Pflicht zum Homeschooling für kürzeste Proviant-Lieferwege, zumal sich viele ABC-Schützen genötigt sehen, ihre Pensa am Küchentisch zu erledigen. Die Jausenbox hat ihre Schuldigkeit getan. Myriaden von Krümeln finden derweil ihren Weg in die geheimnisvollen Unterböden von Keyboard oder Tastatur. Sie werden Elektro-Archäologen einmal wertvolle Aufschlüsse vermitteln über die Ernährungsgewohnheiten unserer Covid-19-Gesellschaft.

Anzughose

Die Pandemie hat alle Zoom-Sitzungsteilnehmer der Tendenz nach in Menschen ohne Unterleib verwandelt. Damit wurde einer neuen Form der Verstellungskunst Bahn gebrochen: dem textilen Partial-Schick. Von der Taille aufwärts entfalten plötzlich selbst solche Arbeitskollegen, die man als unscheinbar in Erinnerung hatte, vor dem Bildschirm die unwirklich anmutende Pracht hinreißend schöner, modisch gepflegter Sitzriesen. Hingegen herrschen unter der Gürtellinie, weil sträflich unbemerkt vom Kameraauge, Zustände von Verwahrlosung und sittlicher Nonchalance.

Die Modebranche könnte, bei ausbleibender Wirkung eines entsprechenden Anti-Covid-19-Impfstoffes, die Gelegenheit bei der Weste packen und ihre Sortimente einer dramatischen Veränderung unterziehen. Ein und derselbe Mensch wäre mit sich ungleich. Brust und Lenden wären voneinander getrennt wie Nord- und Südkorea. Out wären jedenfalls Anzughosen und andere repräsentative Beinkleider. Zum Harris-Tweed bildete die Jogginghose das homeofficetaugliche Pendant.

Der einsame Spaziergang

Um seinetwillen schrieb Georg Büchner sein Erzählfragment Lenz: Darin geht ein bis in die seelischen Grundfesten erschütterter Mensch allein durchs Hochgebirge, vorbei an allerlei Gewölk und Tälern ("die Wolken wie wiehernde Rosse"), die die aufgewühlte Beschaffenheit seiner Seele ungemein suggestiv abbilden. Lenz verspürt trotz der Beschwerlichkeit seines Weges keine Müdigkeit; nur ist es ihm unangenehm, "dass er nicht auf dem Kopf gehen" kann. Nicht auszudenken, der verstörte Lenz hätte den Lockdown als Zeitfenster für seinen Gang durch die Natur benützt. Ganze Marschsäulen von Ausflüglern, der eigenen vier Wände müde, wären ihm im Weichbild der Städte begegnet, oder noch höher, knapp oberhalb der Sessellifte, im Gebirg’.

Sie hätten ihn dabei ertappt, wie er, womöglich mit geringer Anmut, auf dem Kopf durch das Unterholz – zum Beispiel des Wienerwaldes – gehoppelt wäre. Mit der Einsamkeit in Hain und Fluren ist es, Covid sei Dank, vorbei. Man wird es den Leuten nicht verdenken, dass sie die Botanisiertrommel schultern, den Wohlstandshund anleinen und sich wenigsten zeitweise auf den Holzweg machen.

Trolley

Sein ohrenbetäubendes Klappern auf den Pflasterstränden der großen Metropolen half mit, die Weltläufigkeit seiner Benutzer zu verbürgen. Den Rollkoffer schätzte man nicht bloß wegen der bügelfrischen Hemden, die er treu wie Sancho Pansa verwahrt hielt. Der beherzte Griff nach dem Zugbügel zeigte an, dass die ganze, bis in ihre letzten Winkel hinein erforschte Welt für jedermann zur Besichtigung freigegeben sei. Der quaderförmige Leib des Rollkoffers ließ an den Körperbau spartanischer Hopliten denken. Seine Haut war aus unnennbaren Kunststoffen gefertigt, er selbst schmiegte sich problemlos in die Klappfächer noch der allerschäbigsten Chartermaschinen.

Nun dämmert er, leer und um seinen alleinigen Daseinszweck betrogen, in den Kellern derer, die wegen der Pandemie ihr Fernweh nicht mehr kurieren können. Ohne sein Klappern ist es ohrenbetäubend still geworden: zwischen den immer gleichen Anbietern von Billigtextilien in den Fußgängerzonen "all over the world". (Ronald Pohl, 29.11.2020)