Elisabeth Bronfen hat den ersten Lockdown dazu benutzt, ein Buch über Pandemie-Romane und -Filme zu schreiben: "Angesteckt. Zeitgemässes über Pandemie und Kultur" heißt es.

Foto: Tom Haller

Mit ihren Thesen erregt sie immer wieder Aufsehen: Die bekannte deutsche Literatur- und Kulturwissenschafterin Elisabeth Bronfen hat sich in ihrem neuen Buch Angesteckt. Zeitgemässes über Pandemie und Kultur (Echtzeit Verlag, € 32,– / 183 Seiten) angesehen, was wir aus fiktionalen Werken der Vergangenheit über die Pandemie der Jetztzeit lernen können.

STANDARD: In der Beschreibung der Corona-Pandemie haben Sie zwei Bilder ausgemacht, die wiederkehren. Das Bild vom Krieg und jenes von Viren als Zombies. Zombies?

Bronfen: Viren und Zombies sind Wesen, die sich zwischen Leben und Tod bewegen. Auch Virologen sprechen davon, dass man in das Reich der Untoten eintritt, wenn man sich mit Viren beschäftigt. Es gibt viele Filme, die dem Virus Gestalt geben, indem sie ihn als Zombie oder auch als Vampir auftreten lassen.

STANDARD: Der erste Vampirfilm war Nosferatu. Was erzählt er uns?

Bronfen: Pandemien kommen immer von außen, von einer exotischen oder zumindest als unheimlich verstandenen Welt. Wenn der Vampir beschließt, auf Reisen zu gehen, reist die Krankheit mit ihm. Das ist auch bei Nosferatu der Fall.

STANDARD: Am Anfang der Pandemie wurde das Bild vom Krieg gegen das Virus immer wieder aufgerufen. Diese Metapher scheint in den Hintergrund gerückt zu sein, oder?

Bronfen: Am Anfang der Pandemie war die Metapher allgegenwärtig: Macron hat eine pathetische Rede an die Nation gehalten, in der er von einem Krieg sprach, in dem man sich befinde. Ebenso Merkel und Trump. Das Bild funktionierte zu diesem Zeitpunkt: Es wurde benutzt, um Solidarität zu erzeugen.

STANDARD: Das ist Vergangenheit.

Bronfen: Das Bild ließ sich auch deshalb nicht aufrechterhalten, weil sich zeigte, dass es viele Fronten im Kampf gegen das Virus gibt. Die Gesundheitsinteressen, die wirtschaftlichen und politischen Interessen sind sehr unterschiedlich. Von Einheit kann keine Rede mehr sein.

STANDARD: Welche Bilder funktionieren denn jetzt, in der zweiten Welle?

Bronfen: Es ist, wenn überhaupt, ein Krieg im Inneren. Es gibt eine verhärtete Front von Covid-Leugnern, die mit Verschwörungstheorien operieren, von Covid-Relativierern und natürlich von jenen, die Leben schützen wollen und sich über andere Gruppen entrüsten. Wir sind in einer paranoiden Kultur gefangen, die alles unter Verdacht stellt. Wir trauen den Politikern, den Virologen oder auch dem Gesundheitswesen nicht mehr, da wir schlichtweg mit zu vielen unterschiedlichen, sich widersprechenden Informationen bombardiert wurden. Derzeit befinden wir uns in einem Zustand von Verwirrung, Verunsicherung und Ungeduld.

STANDARD: Sie haben Romane und Filme über Pandemien analysiert. Welche Hilfestellungen geben uns fiktionale Werke in der Bewältigung dieser doch sehr realen Pandemie?

Bronfen: Sie zeigen, dass wir bei dem, was wir empfinden, nicht allein sind. Das nicht Einzigartige ist beruhigend. Romane und Filme gehen glücklicherweise irgendwann zu Ende. In Camus’ Roman Die Pest jubilieren am Ende die Menschen auf der Straße, die Pandemie ist vorbei. Auch wir können uns dadurch vorstellen, dass die Krise irgendwann zu Ende gegangen sein wird.

STANDARD: Zwischen Pest und Covid liegen Welten. Gibt es Denkmuster, die sich ähneln?

Bronfen: Covid-19 ist weder mit der Spanischen Grippe noch mit Pestausbrüchen vergleichbar. Aber es gibt Parallelen wie Schutzmaßnahmen, Quarantäne- und Abstandsregeln. Und was ins Auge fällt: Die schnelle und leichte Verbreitung des Virus ist auch bei Boccaccio, Camus oder in Shelleys Roman The Last Man Thema. Wie heute halten sich dort Menschen aus Gier und Eigennutz nicht an die Regeln.

STANDARD: Gehören Verschwörungstheorien auch zum Standard im fiktionalen Pandemie-Genre?

Bronfen: Pandemiefilme fangen in den 1950er-Jahren im Kontext des Kalten Krieges an. Es wird eine Bedrohung von außen gezeigt, man weiß nicht, wer dahintersteckt. Oft sind es Aliens. In späteren Filmen wird die Bedrohung klarer gezeigt: Es ist die Nasa, die gefährliche Experimente macht, oder Schurken im Verteidigungsministerium.

STANDARD: Oder auch Medien. Man denke an Soderberghs Film "Contagion". Sind Pandemien ohne Verschwörungstheorien nicht zu haben?

Bronfen: Wir leben prinzipiell in einer Kultur von Verschwörungstheorien. Covid-19 verstärkt nur etwas, das schon da ist. Die Hilflosigkeit vieler Leute gegenüber dieser Pandemie verstärkt den Glauben daran, dass es da draußen eine Macht geben muss, die man benennen kann. Menschen lieben solche Geschichten, weil sie sinnstiftend sind.

STANDARD: Philosophen halten sich mit Wortmeldungen in der derzeitigen Krise zurück. Dabei könnten gerade sie Sinnstiftung betreiben.

Bronfen: Vieles, mit dem sich Theoretiker in den ersten Wochen zu Wort gemeldet haben, hat nicht gegriffen. Natürlich kann man sagen, Covid-19 sei die Konsequenz der Globalisierung etc. Es bringt uns aber nicht weiter. Ich sehe diese allgemeine Ratlosigkeit eher als Appell, noch mal über die Bücher zu gehen und zu überlegen, wie wir unser theoretisches Gerüst adjustieren können. Ich sehe das positiv. Antworten geben im Moment die Naturwissenschafter.

STANDARD: Ein Bild, das Konjunktur hat, ist jenes von der Natur, die in Form des Virus zurückschlägt. Warum hält sich das Bild so hartnäckig?

Bronfen: Das Bild einer Welt ohne Menschen hat uns am Anfang der Pandemie gut gefallen. Die Tiere kommen in die Städte zurück, die Blumen schauen plötzlich besser aus. Beim Denken über Ökologie und Klimawandel scheint ein Gesinnungswandel stattgefunden zu haben. Wir sind Teil eines größeren Systems und nicht in dessen Zentrum: Das ist eine Denkfigur, die seit der Krise weit stärker einleuchtet.

STANDARD: Wir hatten uns daran gewöhnt, die Herren der Welt zu sein. Was macht das Wissen um unsere Verwundbarkeit mit uns?

Bronfen: Eine unserer größten Fantasien ist jene unserer Unsterblichkeit. Wenn du dich aufs Leben einrichten willst, sagt Freud, richte dich auf den Tod ein. Akzeptieren wir das und haben dadurch ein reicheres Leben, wie Freud behauptet?

STANDARD: Und?

Bronfen: Nein. Das kann man aus Film und Literatur lernen: Wir können diese Wahrheit nur bis zu einem gewissen Punkt anerkennen. Sie ist zu schmerzhaft für uns. Nach der Pandemie werden wir das Faktum unserer Sterblichkeit wieder vergessen. Romane, Filme oder Serien werden versuchen, uns daran zu hindern. (Stephan Hilpold, 29.11.2020)