Kontrollierter Suizid durch eine Überdosis Natrium-Pentobarbital: Erlauben die Verfassungsrichter diese Praxis in Österreich?

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Dignitas-Leiter Silvan Luley: "Die ,Warnungen' der Sterbehilfe-Gegner zeugen von einem zutiefst abwertenden Menschenbild, nach dem die Gesellschaft und Angehörige per se schlecht sind."

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Der Verfassungsgerichtshof berät dieser Tage über eine heikle Frage: Widersprechen die Paragrafen 77 und 78 des Strafrechts – "Tötung auf Verlangen" und "Mitwirkung am Selbstmord" – der Verfassung? Kommen die Höchstrichter zu diesem Schluss, wäre der Praxis der Sterbehilfe die Tür geöffnet.

Die möglichen Folgen lassen sich in der mit einer liberaleren Gesetzeslage ausgestatteten Schweiz beobachten. Dort bietet der gemeinnützige Verein "Dignitas– Menschenwürdig leben, Menschenwürdig sterben" unter anderem assistierten Suizid an: Menschen mit Todeswunsch können sich nach Beratung und ärztlicher Begutachtung das Medikament Natrium-Pentobarbital in Überdosis verschreiben lassen. Die Kosten dafür können in die tausende Euro gehen, doch Dignitas versichert: Wenn aus finanziellen Gründen nötig, seien alle Dienste kostenlos. Seit 2001 haben 64 Österreicher diese Leistung in Anspruch genommen.

STANDARD: Dignitas hat eine Klage vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof (VfGH) finanziert, um assistierten Suizid in Österreich zu ermöglichen. Was ist Ihre Motivlage?

Luley: Wie Meinungsumfragen zeigen, wollen viele Menschen nicht nur über ihr Leben, sondern auch über ihr Lebensende selbstbestimmt entscheiden können. Dignitas will diesem Recht zum Durchbruch verhelfen. Die Erfahrung zeigt, dass es ohne fachkundige Hilfe sehr riskant ist, sein Leben zu beenden: Auf jeden Todesfall durch Suizid kommt ein Vielfaches an gescheiterten Suizidversuchen nach mitunter martialischen Do-it-yourself-Methoden – mit oft gravierenden Folgen für die Gesundheit der Betroffenen und Dritte, wie etwa Angehörige. Keine Österreicherin, kein Österreicher soll mehr in die Situation gelangen, sich erschießen zu müssen.

STANDARD: Wenn das Gericht dem Antrag recht gibt: Will Dignitas in der Folge auch in Österreich assistierten Suizid anbieten?

Luley: Das ist nicht unser Ziel, wir wollen uns vielmehr selbst überflüssig machen. Insbesondere Personen von außerhalb der Schweiz sollen sich nicht an Dignitas wenden müssen, sondern legal Hilfe von lokalen Institutionen bei sich zu Hause erhalten. Sinnvoll wäre es, wenn Krankenhäuser, Pflegeheime und Ärzte diese Aufgabe in Österreich erfüllen. So wie dies in den Niederlanden, Belgien und Kanada Realität ist.

STANDARD: Dignitas gewährt nicht nur Menschen Suizidhilfe, die körperlich schwer krank sind, sondern auch bei psychischen Leiden ...

Luley: ... was durch eine Entscheidung des Schweizer Bundesgerichts gedeckt ist. Demnach haben auch Menschen mit einer psychischen Krankheit die Freiheit und das Recht, über Art und Zeitpunkt ihres Lebensendes zu entscheiden.

STANDARD: Wie lässt sich ausschließen, dass sich jemand aus einem womöglich vorübergehenden seelischen Tief für den Tod entscheidet?

Luley: Wie das Gericht ausgeführt hat, gilt es zwischen dem Sterbewunsch zu unterscheiden, der Ausdruck einer therapierbaren psychischen Störung ist und nach Behandlung ruft, und jenem Wunsch, der auf einem wohlerwogenen und dauerhaften Entscheid einer urteilsfähigen Person beruht – einem sogenannten Bilanzsuizid. Voraussetzung für diese Unterscheidung: Der Sterbewunsch von Personen mit psychischer Krankheit muss von Psychiatern begutachtet werden.

STANDARD: Das Recht biete jetzt schon Auswege aus hoffnungslosen Situationen, hielten die Gegner bei der Verhandlung am VfGH entgegen: Patienten können lebensverlängernde Behandlungen ablehnen, Ärzte dürfen Schmerzmittel bei Bedarf in einer Dosierung verschreiben, die das Leben verkürzen könnte. Reicht das nicht?

Luley: Wenn ein Patient eine Infektion bekäme, würde diese auf Basis eines verfügten Behandlungsverzichts nicht auskuriert, was zum Tode führe, argumentierte ein Palliativarzt am Verfassungsgerichtshof sinngemäß. Demnach müsste ein schwerkranker Mensch mit Sterbewunsch darauf hoffen, zufällig – was in einem klinisch reinen Spital oder Hospiz nicht so wahrscheinlich ist – einen Infekt zu entwickeln. Es gibt aber auch in Österreich Menschen, die nicht durch Behandlungsverzicht oder im medikamentösen Dämmerzustand das Lebensende abwarten wollen.

STANDARD: Droht da nicht Missbrauch? Schwerkranke Menschen könnten in Rechtfertigungsnot geraten, Verwandte könnten Druck ausüben, weil Pflegefälle eine Last sind oder das Erbe verlockend ist.

Luley: Gegen jeden Ruf nach mehr Selbstbestimmung des Menschen – sei es der Schwangerschaftsabbruch oder die gleichgeschlechtliche Ehe – äußern Gegner ähnliche Einwände. Fundierte Beweise legen sie jedoch nicht vor. Ihre "Warnungen" zeugen von einem abwertenden Menschenbild, nach dem die Gesellschaft und Angehörige per se schlecht sind.

STANDARD: Das klingt, ehrlich gesagt, etwas naiv. Erbstreitigkeiten in Familien enden doch immer wieder vor Gericht oder im Extremfall auch in Gewalttaten. Was macht Sie so sicher, dass in der Frage des Suizids nur hehre Motive eine Rolle spielen?

Luley: Der Schweizer Gesetzgeber ist wohl kaum naiv, und wir sind es auch nicht. Jede Freiheit kann missbraucht werden. Die Erfahrung aus 35 Jahren Suizidhilfe-Praxis zeigt aber, dass es die von den Gegnern beschworenen Missbräuche nicht gibt, sicher nicht in dem insinuierten Ausmaß. Nach unserer Erfahrung lehnen es die Angehörigen oft erst einmal ab, wenn eine schwerkranke Person den Wunsch zu sterben äußert. Die Gegner der Sterbehilfe schüren Angst. Nach deren Argumenten müssten der Behandlungsverzicht und die palliative Sedierung im Spital ebenfalls verboten werden, denn auch dabei begibt sich die betroffene Person in die Abhängigkeit von Dritten.

STANDARD: Sie haben den Verdacht geäußert, dass Freitodbegleitung in Österreich deshalb nicht zugelassen wird, weil psychiatrische Kliniken mit verzweifelten Menschen, die ihre Suizidversuche überlebten, "wirklich schön Geld verdienen". Wie kommen Sie zu diesem Verdacht?

Luley: Diese Äusserung mag als sehr provokant empfunden werden, fußt aber auf den Aussagen von Fachpersonen, die finanzielle Anreize für Ärzte und Kliniken aufgezeigt haben, Behandlungen, auch schädliche Übertherapie, durchzuführen.

STANDARD: Ist das plausibel? Der Staat könnte sich doch viel Geld für die öffentlichen Spitäler ersparen, wenn kranke Menschen früher sterben würden. Gegner befürchten deshalb, dass bei einer Liberalisierung die gesellschaftliche Solidarität mit den Alten und Kranken bröckelt.

Luley: Der Staat profitiert sicher auch von den Behandlungen und den Medikamenten steuerlich, doch darum geht es nicht. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Solidarität nicht bröckelt, sondern dass alle Menschen Zugang zu der medizinischen Versorgung haben, die sie sich wünschen. Jeder Mensch soll menschenwürdig leben, aber auch menschenwürdig sterben können. Unabhängig davon, ob das für irgendjemand ein Profit oder ein Verlust ist.

STANDARD: Gegner der Liberalisierung warnen auch vor Geschäftemacherei mit dem Tod. Was macht Dignitas mit dem eingenommenen Geld?

Luley: Primär finanziert sich der Verein über die Mitgliedsbeiträge. Dabei sind weit mehr Personen unterstützende Mitglieder, als dass sie einen assistierten Suizid in Anspruch nehmen. Spenden machen einen deutlich geringeren Anteil aus. Alle Einnahmen werden zur Deckung der Kosten und für den Ausbau unserer Tätigkeiten verwendet. Sollte Dignitas je aufgelöst werden, sind gemäß den Vereinsstatuten die verbleibenden Mittel einer Institution mit gleichem oder ähnlichem Zweck zuzuwenden. Es ist ausgeschlossen, dass Geld an die Vereinsmitglieder zurückfließt. (Gerald John, 30.11.2020)