Der Begriff "politischer Islam" ist ungeeignet, Realitäten abzubilden oder politische Maßnahmen gegen Radikalisierung zu begründen, finden die Politologin Sieglinde Rosenberger und ihr Kollege Rainer Bauböck.

In einem Blog stellt der Islamwissenschafter Farid Hafez die Razzien gegen die Muslimbruderschaft in den Kontext der Novemberpogrome der Nazis 1938 und der Verfolgung der Uiguren durch das chinesische Regime. Keine Erwähnung findet der islamistische Anschlag in Wien. Das Fazit lautet vielmehr, Österreich sei auf dem Weg, die Geschichte (gemeint ist die NS-Geschichte) zu wiederholen.

Geschrieben hat dies ein Wissenschafter, sein Tonfall ist jedoch der eines politischen Aktivisten, der auf einem Auge blind ist. Auch wenn kein direkter Vergleich zwischen den Razzien und den Novemberpogromen hergestellt wird, ist das Fake-Science; der Verfasser nutzt seine Position, um einer unhaltbaren politischen Ansage Legitimität zu verschaffen. Und es ist eine – völlig verfehlte – Antwort auf den überreizten Islam-Diskurs in Österreich. Seit den 2000er-Jahren wird mit islamophoben Slogans Politik mit dem Ziel gemacht, die einen gegen die anderen aufzuhetzen.

Integrationsministerin Susanne Raab propagiert den Begriff "politischer Islam". Ein Kampfbegriff, finden Experten.
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Politischer Islam kann neutral als die Weltsicht von Bewegungen bezeichnet werden, die mit politischen Mitteln religiös begründete Werte durchsetzen wollen. Faktisch ist er jedoch zum flexibel einsetzbaren Kampfbegriff verkommen und somit ungeeignet, Realitäten abzubilden oder gar politische Maßnahmen gegen Radikalisierung zu begründen. Politischer Islam wird von der Regierung mit grundsätzlicher Ablehnung von Demokratie und Rechtsstaat und Unterstützung von Gewalt assoziiert. Dafür gibt es aber einen besser geeigneten Begriff: Strömungen und Netzwerke, die die liberale Demokratie und ihre rechtsstaatlichen Kontrollen nicht akzeptieren und Religion bedingungslos über demokratische Politik stellen, sind nicht "politisch islamisch", sondern islamistisch.

Politischer Katholizismus

In Österreich gibt es die Erfahrung mit dem politischen Katholizismus. Sein Ziel war es, den Staat nicht nur als Instrument zur Durchsetzung katholischer Lehren zu nutzen, sondern diesen durch politische Mobilisierung zu erobern. Diese Haltung mündete im klerikalen Austrofaschismus der Ersten Republik. Nach 1945 akzeptierte die Kirche die Trennung der Sphären. Dennoch geht es seither nicht um eine unpolitische Kirche. Kardinal Franz König plädierte für eine nicht parteilich gebundene Kirche, aber für eine politische, die sich im Sinne der christlichen Lehre in Politik und Gesellschaft einbringt.

Ein ähnliches Politikverständnis müsste auch für den Islam gelten. Warum sollte der Islam heute unpolitisch sein? Warum sollten sich Muslime nicht politisch betätigen? In einem liberaldemokratischen Rechtsstaat kann weder der Islam im Allgemeinen noch ein politischer Islam als zu bekämpfender Feind gelten, sondern nur der Islamismus als Ideologie, deren Ziel nicht die Anerkennung einer Religionsgemeinschaft im demokratischen Rechtsstaat ist, sondern die Zerstörung ebendieses Rechtsstaates.

Den Islamismus als politischen Feind der Demokratie zu bezeichnen heißt nicht, ihn mit dem Strafrecht zu bekämpfen. Das ist dann nicht möglich, wenn er sich als Gesinnung manifestiert und nicht zu Aktionen greift, die die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger und die staatliche Sicherheit bedrohen. Ihn unter Beobachtung zu stellen ist jedoch legitim, da auf dem Nährboden solcher Gesinnungen ebendiese Gefahren wachsen. Dieses Prinzip gilt auch für andere antidemokratische Strömungen, wie die radikalen Evangelikalen in den USA, deren Versuch der Zerstörung der amerikanischen Demokratie durch Eroberung ihrer Institutionen das Land an den Abgrund eines Verfassungsputsches geführt hat.

Evangelikaler Radikalismus

Der evangelikale Radikalismus ist aber nicht gleichzusetzen mit den im Untergrund operierenden bewaffneten Milizen der extremen Rechten. Gleiches gilt für die Differenzierung zwischen Islamismus als politischer Gesinnung und jihadistischem Terror. Ob und wie es hier Verbindungen gibt, ist eine faktische Frage, die durch gemeinsame ideologische Überzeugungen nicht hinreichend beantwortet wird. Im Fall der Operation "Luxor" gegen die Muslimbruderschaft scheint die Beweislage für solche Verbindungen bisher mehr als dürftig.

Erst die Verteidigung der Freiheit der religiösen und politischen Betätigung für Muslime ermöglicht es, illiberale Haltungen ihrer konservativen Vertreter, etwa hinsichtlich der Gleichberechtigung der Geschlechter, zurückzuweisen. In der Auseinandersetzung mit einem politischen Gegner muss dessen Existenzberechtigung anerkannt werden, um seine Anhängerinnen und Anhänger mit Argumenten zu erreichen und zu überzeugen.

Islamfeindlichkeit nicht leugnen

Wer das ernsthaft will, darf Islamfeindlichkeit nicht leugnen. Wie sonst sollen antimuslimische Einstellungen oder Propagandasprüche wie "Daham statt Islam" bezeichnet werden? Hafez hat recht, Islamophobie ist in der politischen Mitte angekommen. Er hat unrecht, wenn er dies in einen Zusammenhang mit dem mörderischen Antisemitismus stellt oder mit der polizeistaatlichen Repression der Uiguren vergleicht.

Wir sollten schleunigst versuchen, aus einem sich aufschaukelnden Diskurs auszubrechen, in dem der einen Seite politischer Islam als Deckbegriff für die Befeuerung von Islamophobie dient und von der anderen jede Kritik am Islam und seinen Organisationen als solche denunziert wird. Was wir brauchen, sind Begriffe, die soziale Realitäten differenziert beschreiben und ebenso differenzierte demokratische Antworten ermöglichen. (Sieglinde Rosenberger, Rainer Bauböck, 28.11.2020)