Gefährliche Gipfel in Tirol ...

Der Bezirk Schwaz in Tirol weist pro Kopf die höchsten Corona-Zahlen Österreichs auf.
Foto: Florian Lechner

Schwaz in Tirol ist pro Kopf der Bezirk mit den höchsten Corona-Zahlen Österreichs. Die Ursachensuche läuft, doch noch wichtiger ist für die Region, schnell wieder die Kontrolle zu erlangen

Die Gassen in der traditionsreichen Silberstadt Schwaz sind an diesem kalten Novemberabend fast menschenleer. Das ist auch gut so. Denn gemäß Statistik ist oder war jede 15. Person, die man hier auf der Straße trifft, mit dem Coronavirus infiziert. In keinem anderen Bezirk des Landes gab es seit Beginn der Pandemie mehr Infektionen.

Das ist auch der Grund dafür, dass in den Büros der Schwazer Bezirkshauptmannschaft derzeit spät nachts noch das Licht brennt. Hier werde "bis an die Grenzen der Belastbarkeit" gearbeitet, sagt Michael Brandl. Der Bezirkshauptmann wirkt besorgt: "Die Situation beschäftigt uns sehr intensiv."

5627 Personen haben sich in Schwaz seit Beginn der Pandemie mit dem Virus infiziert. Umgerechnet auf 100.000 Einwohner wären das 6664 Fälle. Im Österreichvergleich ist das mit Abstand die Spitzenposition. Am unteren Ende dieser Statistik liegt Spittal an der Drau mit nur 1043 Fällen seit Februar.

Dabei liegen beide Bezirke – Luftlinie, gemessen an den jeweils nächstgelegenen Punkten – nur rund 40 Kilometer voneinander entfernt. Beide sind ländlich geprägt, haben ähnlich viele Einwohner, und doch entwickelten sich die Fall zahlen derart unterschiedlich. Wie kann das sein? "Wir können derzeit selbst nur Theorien aufstellen", sagt Brandl. Bis zum Herbst war sein Bezirk noch relativ unauffällig. Den Sommer über wurden vereinzelt Fälle registriert, nicht anders als im Rest des Landes. Doch im September ging es plötzlich los.

Gigantische zweite Welle

"Und diese zweite Welle ist gigantisch", erklärt Brandl. Waren es im Frühjahr an Spitzentagen 240 aktiv positive Fälle, so stieg dieser Wert im Herbst auf bis zu 1800. Begonnen habe alles mit Urlaubs- und Heimatbesuchrückkehrern, erinnert sich Brandl an den Spätsommer: "Zuerst aus Kroatien, dann aus der Türkei." Das führte dazu, dass nicht wenige große, sondern plötzlich unzählige kleine Familiencluster entstanden sind, die nur schwer nachverfolgbar waren. "Es ging dann sehr schnell in die Breite", sagt Brandl.

Schwaz:
Einwohner: 84.329
Fläche: 1.843 km²
Bevölkerungsdichte: 46 Einwohner pro km²
Covid-19-Fälle: 5.620
Inzidenz bis 25.11.: 6664 Fälle je 100.00 EW
Covid-19-Todesfälle: 61

Der Bezirkshauptmann und sein Team versuchen seitdem mit aller Kraft dagegenzuhalten: "Wir sind extrem gefordert, aber voll motiviert." Alle helfen zusammen. Von der Forstabteilung bis zur Jugendwohlfahrt sind 80 von Brandls Mitarbeitern sieben Tage die Woche beinah rund um die Uhr im Covid-Einsatz. Der Bezirk kämpft mit aller Kraft gegen das Virus.

Bis ins hinterste Zillertal, in der Gemeinde Tux, hat man sich der Pandemieabwehr verschrieben. Weil Zeit der entscheidende Faktor in diesem Duell ist, griff man dort zur Selbsthilfe: Gemeinde und Tourismusverband haben in Absprache mit der Bezirkshauptmannschaft zwei PCR-Testgeräte für die beiden niedergelassenen Ärzte des Ortes besorgt. Seit sechs Wochen testen Peter Peer und seine Kollegin Jutta Wechselberger nun selbst die Tuxer Bevölkerung.

Fünf Stunden unterwegs

"Wir versuchen damit zu verhindern, dass das Virus sich bis zu den vulnerablen Gruppen, den Alten und Risikopatienten, durchfrisst", erklärt Peer die Idee dahinter. Denn bisher mussten die Tuxer, wenn sie sich testen lassen wollten, in die Bezirkshauptstadt fahren. "Da ist man bis zu fünf Stunden unterwegs, und bis man ein Ergebnis bekommt, vergehen noch einmal fünf Tage oder mehr", so der Mediziner. In genau dieser Zeit würden aber die Ansteckungen passieren.

Dank der PCR-Tests konnte diese kritische Wartezeit für die Tuxer auf maximal vier Stunden vom Test bis zum Ergebnis reduziert werden. Der Erfolg gibt den Medizinern recht: In den vergangenen zwei Wochen sank die Zahl der Infektionen im Ort um die Hälfte. Gerade hinsichtlich der kommenden Weihnachtszeit, die Peer Sorgen bereitet, verspricht er sich einen Vorteil von dieser Strategie: "Denn wir haben hier herinnen große Familienclans, ähnlich wie in der Türkei. Und die treffen sich an den Feiertagen. Zu Aller heiligen saßen die alle beinander, und viele haben sich so angesteckt."

Das Tuxer Modell bringe zwar kurzfristig mehr positive Fälle für die Statistik, werde aber langfristig dafür sorgen, dass die Fallzahlen sinken, wie Peer bereits beobachtet: "Wir haben keine hohe Dunkelziffer mehr. Anfangs hatte ich bei 25 Tests am Tag 15 Positive. Und wir haben festgestellt, dass ein Drittel der Fälle asymptomatisch ist."

Suche nach Ursachen

Insgesamt wurden im Bezirk Schwaz seit Beginn der Pandemie 49.588 Testungen durchgeführt. Aus Spittal gibt es dazu keine Vergleichszahlen. Anders als in Tirol führt Kärnten nicht so genaue und umfassende Statistiken zur Pandemie. Doch Bezirkshauptmann Brandl vermutet, dass in seinem Bezirk "weitaus mehr" getestet wurde und die hohen Fallzahlen mitunter darauf zurückzuführen sind.

Ein anderer wichtiger Faktor in Schwaz sei die Mobilität, glaubt der Bezirkshauptmann. Denn das Inntal ist mit dem Drautal kaum zu ver gleichen, was die Frequenz angehe. Zudem beherbergt Schwaz viele große Industriebetriebe, deren Angestellte oft aus Nachbarbezirken ein pendeln. Umgekehrt arbeiten viele Schwazer auswärts.

Mit dem Tourismus – mit dem Zillertal und der Achenseeregion weist der Bezirk zwei der meistbesuchten Regionen Tirols und eine doppelt so hohe Tourimusintensität wie Spittal auf – dürften die hohen Infektionszahlen nichts zu tun haben. Im Sommer waren trotz zehntausender Gäste keine signifikanten Infektionsgeschehen zu beobachten.

Doch angesichts der aktuellen Situation bereitet die Aussicht auf die Wintersaison im Schwazer Bezirksspital Kopfzerbrechen. Bei anhaltend hohen Infektionszahlen könnte es dann nämlich zu Engpässen kommen, wenn plötzlich zahlreiche Frischverletzte von den Skipisten eingeliefert werden.

Die Verantwortlichen stehen vor einer schwierigen Lage. Denn die Region braucht die Einnahmen aus dem Tourismus. Selbst das Bezirksspital ist darauf angewiesen, weil es zu einem beträchtlichen Teil von den Gemeinden des Bezirkes finanziert wird, die wiederum auf die Kommunalabgaben angewiesen sind, um diese Gelder bereitstellen zu können.

Trotz allem ist Bezirkshauptmann Bandl vorsichtig optimistisch. Denn im Frühjahr war Landeck im Tiroler Oberland der am schwersten betroffene Bezirk. Doch die zweite Welle verlief dort deutlich milder. "Womöglich liegt das an der Immunität der Menschen, die bereits infiziert waren?" Dann, so die Hoffnung, hätte Schwaz zumindest bei einer dritten Welle einen Vorteil. (Steffen Arora)

... und Kärntens sichere Bergwelt.

Heiligenblut war im März in Quarantäne.
Foto: EPA / Christian Bruna

Spittal an der Drau ist pro Kopf der Bezirk mit den niedrigsten Corona-Zahlen Österreichs. Vielleicht weil die Quarantäne im März in Heiligenblut den ganzen Bezirk unter Schock setzte und zu strengen Kontrollen geführt hat

Kein Zweifel: ein bildhübscher Flecken Erde. Noch dazu ein dem Himmel sehr naher. Der Großglockner ragt 3798 Meter in die Höhe, ringsum ausladende Almlandschaften und in der Mitte das kleine Heiligenblut mit seinem spitzen Kirchturm, der mit den Gipfeln ringsum wetteifert.

"Ehrlich, wir sind schon ziemlich gesegnet", schmunzelt Bürgermeister Josef Schachner, "was kennt man denn schon in Europa von Österreich ? Wien, dann vielleicht Salzburg, und dann kommt schon bald Heiligenblut." Die Kleinheit der Region schadet ganz offensichtlich dem Selbstbewusstsein seiner Bewohner nicht. Die Idylle des Kärntner Kleinods Heiligenblut wurde im März aber jäh zerstört.

Das Virus mischte sich unter die zahlreichen Wintertouristen. Touristen, die zuvor in Italien zum Skifahren waren, hatten in Heiligenblut noch einen Zwischenstopp eingelegt und das Virus mitgebracht. Den Sündenfall Ischgl im Hinterkopf, ließ die Bezirkshauptmannschaft in Spittal an der Drau sofort die Rollbalken runter und stellte das am westlichen Rand Kärntens gelegene Heiligenblut unter Quarantäne.

Schock saß tief

Bei aller Qual für die Einwohner: Die harte Maßnahme war mit ein Grund, dass der Bezirk Spittal an der Drau heute – gemessen am Verlauf der Corona-Zahlen seit Februar – zu den am wenigsten belasteten Bezirken zählt. "Aber es war schon arg, da hab ich einiges mitgemacht", erinnert sich Bürgermeister Schachner.

Spittal an der Drau
Einwohner: 75.868
Größe: 2.765 km²
Bevölkerungsdichte: 27,4 Einwohner pro km²
Covid-19-Fälle: 1.043
Inzidenz bis 25.11.: 1374 Fälle je 100.000 Einwohner
Covid-19-Todesfälle: 7

Zahlreiche Urlauber, die im Ort festsaßen, mussten untergebracht und versorgt werden. "Sie haben ja kein G’wand g’habt. Das hat bei der Unterhos’n angefangen bis zu den Socken. Viele wollten ja nur über das Wochenende bleiben und haben nur die Skiausrüstung mitgehabt. Lustig war’s nicht. Scheiß Bürgermasta, haben sie gesagt, tua wos."

Bei seinem alten Arbeitgeber, einem Baukonzern, habe er Schutzmasken, von einer befreundeten Zahnärztin Desinfektionsmittel organisiert. Nach 14 Tagen war der Spuk vorbei, aber damit Ärgeres verhindert. Doch der Schock saß tief.

Kein Glockner-Lammfest

Der Sommer, der beste seit Jahren, touristisch gesehen, verlief nicht ganz so wie sonst. Die Zügel blieben angezogen. Auch auf den Baustellen im Ort. "Jeder musste sich registrieren, für den Fall der Corona-Verfolgung", sagt Schachner. Und lukullische, zünftige Festivitäten konnten sich die Bewohner abschminken. Selbst bei den Begräbnissen wurden neuen Regeln eingezogen.

Der Gottesdienst für den Todesfall des Pfarrers wurde per Videowall übertragen. Und beim touristischen Highlight, dem "Glockner-Lammfest", wurde die Verkostung gestrichen. Die Gäste bekamen die Jause mit nach Hause. "So sind wir gut über den Sommer und Herbst gekommen", sagt Schachner.

"Natürlich kommt dazu, dass wir streng kontrolliert und auch ziemlich gestraft haben", sagt Bezirkshauptmann Klaus Brandner. "Wir waren generell sehr restriktiv, sicher strenger als anderswo", assistiert der für die Sicherheit zuständige Bereichsleiter der Bezirkshauptmannschaft, Markus Lerch.

Die Kontrolle war aber nur ein Faktor. Auch die Natur habe geholfen, da sind sich alle einig. Weite unbewohnte Landstriche und Berglandschaften. "Wir sind flächenmäßig größer als Vorarlberg", sagt Bezirkshauptmann Brandner. Aber mit nur einem Fünftel der Bevölkerung. Und: "Bei uns gibt’s im Bezirk auch keine Party-Megatempel. Für die Jungen schlecht, aber auch für das Virus", lacht Josef Schachner.

"Natürlich haben wir uns auch im Land den Kopf zerbrochen, warum Spittal so gut dasteht", sagt Claudia Grabner vom Büro der Gesundheitslandesrätin Beate Prettner. Auch für die Landesregierung liegt der Kern der Wahrheit in der Geografie. Die Durchdringung des Bezirks mit den abgeschlossenen Tälern minimierte ganz einfach die Kontaktmöglichkeiten. Dazu gebe es auch wenig Durchzugs- und Pendlerverkehr.

"Wir glauben, dass auch der Fall Heiligenblut seine Nachwirkungen hatte. Die Quarantäne, diese sehr rigorose Maßnahme, wollte niemand in seinem Ort." Von dem Bürgermeister Schachner heute stolz meint: "Einen sichereren Ort findest in ganz Österreich nit." (Walter Müller, 29.11.2020)