Foto: Cross Cult

Das Szenario, das sich Comic-Superstar Warren Ellis hier ausgedacht hat, dürfte SF-Fans alter Schule im ersten Moment an Thomas M. Dischs "The Genocides" erinnern. Wer sich einmal so richtig deprimieren will, der möge diesen Klassiker aus dem Jahr 1965 nachlesen, in dem Außerirdische ihre Saat auf der Erde ausbringen. Die gigantischen Pflanzen, die daraus sprießen, bringen die gesamte Zivilisation zum Zusammenbruch. Am Ende kauern die letzten verbliebenen Menschen wie Ungeziefer zwischen den Stämmen der neuen Flora, ohne jede Hoffnung auf eine Zukunft.

Doch die titelgebenden "Bäume", die hier auf Erden niedergegangen sind, haben eine etwas andere Natur. Das stellen wir spätestens dann fest, wenn uns Zeichner Jason Howard ausnahmsweise einmal ein Exemplar vollständig sehen lässt. Normalerweise verschwinden die gigantischen Stämme der Bäume über den Wolken – doch der Somalia-Baum zeigt uns, dass immer drei davon oben in einem kastenförmigen Teil zusammenlaufen, der gänzlich unorganisch aussieht. Ein Tripod eigentlich, in der SF auch nicht ganz unbekannt!

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Thema Macht

Im Großen und Ganzen bleiben die Bäume passiv. Nur manchmal treten aus ihnen Wogen neongelben Harzes aus, das alles am Boden zersetzt, wie die eindringlichen ersten Seiten des Bands zeigen (siehe die Panels links und rechts). Doch die geben auch bereits einen ersten Hinweis, worauf Ellis eigentlich abzielt: Der Begleittext auf den Eröffnungsseiten mag formal die Ankunft der Bäume beschreiben – die Bilder hingegen zeigen, wie Jahre nach der Landung eine mit Rüstungen und Drohnen ausgestattete Miliz die Bewohner einer Favela abschlachtet. Die uns nicht als intelligent oder lebend anerkennen, diese Worte kann man durch die Zusammenstellung also genauso gut auf eine ganz und gar irdische Macht beziehen.

Und Macht ist das, was in "Trees" thematisiert wird – ob politische, militärische, wirtschaftliche oder sexuelle. Die stumme Präsenz der Bäume scheint – zumindest vorerst – nur ein Katalysator für all das zu sein, was Menschen einander ohnehin antun würden. Und für das sie nun eine "Rechtfertigung" mehr haben. "Sie üben einen Druck aus", heißt es an einer Stelle. "Die Bäume wirken sich auf alles aus. Auf unser Verhalten. Den Lauf des Geldes. Die Dinge, an die wir glauben." Wahr oder nur der Versuch, sich selbst etwas vorzumachen?

Im Schatten der Bäume

In rascher Abfolge lässt uns Ellis durch eine Reihe höchst unterschiedlicher Schauplätze switchen. In der ummauerten Sonderkulturzone Shu etwa führt die chinesische Regierung im Schatten des dortigen Baumes ein gesellschaftliches Experiment durch. In der vorübergehend zugelassenen Freizügigkeit erlebt das junge Landei Tian Chonglei sein künstlerisches und sexuelles Erwachen.

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Auch die widerwillige Gangsterbraut Eligia auf Sizilien dürstet nach Neuem. Dort hat sich eine rechte Gruppe gebildet, die mit ihrem Gefasel vom Schutz der Heimat verbrämt, dass sie bloß eine weitere Erpresserbande mehr ist, eine Möchtegern-Mafia. Doch im mephistophelischen Professor Luca erhält Eligia einen Mentor, der ihr zeigt, wie sie ihre Wut kanalisieren muss und dass Macht etwas ist, das man erlernen kann.

Und in Somalia trifft Journalist Malek auf den neuen Präsidenten des Landes. Der ist weltweit als erster auf die Idee gekommen, einen Baum militärisch zu instrumentalisieren, und nutzt diesen im Krieg gegen eine abtrünnige Provinz als Abschussbasis.

"Trees" zeichnet das Bild einer Welt, die aus den Fugen geraten ist und sich immer weiter zum Schlechteren dreht. Illustrator Jason Howard spiegelt dies in seinen Bildern mit gebrochenen Linien und – laut Eigenaussage – "dreckiger" Optik wider. Der Farbeinsatz ist grell und dennoch sparsam, jedes Panel ist in eine primäre Farbe getaucht, die von der Stimmung der jeweiligen Situation abhängt.

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Da kommt noch was

Wäre natürlich schade, wenn die Bäume nur als kilometerhohe Metapher in der Gegend herumstünden – doch Ellis hat auch Fans einer klassischen Mystery etwas zu bieten. Dafür sorgt ein zentraler Handlungsstrang, zu dem wir zwischen dem Global-Hopping immer wieder zurückkehren: Auch auf Spitzbergen ragt ein Baum in den Himmel, und in der nahen Forschungsstation ist Biologe Marsh wild entschlossen, ihm sein Geheimnis zu entreißen. Und tatsächlich werden rings um den Baum schon bald seltsame neue Aktivitäten registriert ...

Der Band endet mit einem Cliffhanger, doch zum Glück müssen wir uns da weniger gedulden als die Leser der Originalausgabe. "Trees" erschien ursprünglich in Heftform von 2014 bis 2016, dann folgte nach einer langen Pause 2019/20 ein zweiter Schwung. Dieser Sammelband umfasst die ersten acht Hefte, und der nächste wird bereits im März erscheinen; der abschließende dritte dann im Juli. Wird spannend sein zu sehen, wohin diese Reise noch geht.