Die Smartphone-Branche ist wieder kreativer geworden. Die einen Hersteller tüfteln an faltbaren Smartphones, die immerhin bald in ihre dritte Generation gehen. Andere wiederum probieren sich an Konzepten mit zwei Displays, die entweder wie Buchseiten beim Aufklappen des Handys nebeneinander liegen oder sich auf Vorder- und Rückseite verteilen.

Bei LG hat man sich beim Wing für eine andere Variante der Zwei-Bildschirm-Lösung entschieden, die durchaus ein Hingucker ist. Hier wird der Hauptbildschirm einfach um 90 Grad gedreht und legt dann ein kleines Zweitdisplay frei, welches dem Handy neue Nutzungsmöglichkeiten eröffnen soll. Ob das wohl kurioseste Handy des Jahres, das es ab 1000 Euro zu erstehen gibt, hält, was es verspricht, hat DER STANDARD im Test erprobt.

Foto: DER STANDARD/Pichler

Basics

Auf den ersten Blick erscheint das LG Wing wie ein recht normales Smartphone der etwas größeren und dickeren Sorte. Das Gehäuse kommt auf Maße von 169,5 x 74,5 x 10,9 Millimeter. Mit 260 Gramm Gewicht wiegt das Handy auch merkbar mehr als andere Smartphones mit vergleichbaren Abmessungen. Für einen solchen Klotz ist es ausreichend ergonomisch ausgefallen, was auch den abgerundeten Seiten des Displays liegt, die aber wiederum das Beschädigungsrisiko beim Herabfallen erhöhen. Der Ein/Aus-Schalter ist gut mit einer Hand erreichbar, die Lautstärketasten allerdings nicht mehr.

Die Verarbeitung ist gut. Die Rückseite des Handys ist allerdings ein Fingerabdruckmagnet. Offiziell ist das Handy spritzwasserfest (IP54) und soll auch den MILSTD-810G erfüllen, also auch für fordernde Outdoorbedingungen in Sachen Temperatur und Luftdruck geeignet sein. Die Angabe ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, denn diese darf auch rein auf der Einschätzung des Herstellers beruhen, ohne dass konkrete Tests zu den Kriterien durchgeführt wurden.

Die Frontseite füllt ein üppiges POLED-Display mit einer Diagonale von 6,8 Zoll und einer Auflösung von 2460 x 1080 Pixel (20,5:9, 60 Hz). Dieses liefert gute Helligkeit und Kontraste, neigt in der Standardkalibrierung allerdings zu einer etwas "kalten" Darstellung. Gelegentlich registriert das Handy aufgrund der gebogenen Seiten auch Eingaben, die man eigentlich gar nicht machen wollte.

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Das T-Handy

Drückt man auf den Bildschirm und schiebt den Finger nach links, so schnappt es ab einem Winkel von rund 70 Grad nach oben und lässt ihn im Panoramamodus einrasten. Auf der Unterseite des hinteren Gehäuseteils wird damit ein 3,9-Zoll-Zweitdisplay (OLED) freigelegt. Dieses ist nahezu quadratisch und bietet eine Auflösung von 1280 x 1080 Pixel. Die Darstellungsqualität ist mit dem Hauptbildschirm identisch.

In diesem "T-Format" lässt sich das Handy in zweierlei Modi verwenden, die LG bei einem Presseevent zur Vorstellung des Wing "A+" und "A+B" genannt hat. Die Übersetzung: Ersteres beschreibt eine Erweiterung einer App über den zweiten Bildschirm, Zweiteres das Anzeigen einer zweiten App.

"A+" und "A+B"

Viele Anwendungsfälle gibt es für "A+" bisher noch nicht, denn nur wenige Programme, unterstützen die Erweiterung bisher. Dort, wo es sie gibt, mäandert der Grad der Sinnhaftigkeit zwischen "recht praktisch" und "Gimmick". Dass die Steuerungselemente des vorinstallierten Videoplayers ausgelagert werden, ist ganz nett. Die Anzeige der Straßenkarte beim Racing-Game Asphalt 9 wiederum ist spielerisch irrelevant, zumal man in dem Game nicht direkt lenkt. Sehr nützlich ist aber die Möglichkeit, Messenger oder Notiz-Apps dem kleineren Bildschirm zuzuweisen und am großen die Bildschirmtastatur einzublenden. Diese bietet clevererweise auch die Möglichkeit, die Tastenfelder an die Seiten zu "ziehen", um komfortabler Tippen zu können.

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Wie viel man mit der parallelen Anzeige von zwei Apps gewinnt, hängt stark von den jeweiligen Programmen ab. Am Zweitbildschirm im Browser einen Text zu lesen und am Hauptdisplay ein darin eingebettetes Video zu schauen ist zwar auf den ersten Blick recht praktisch, auf den zweiten stellt sich aber heraus, dass langfristige Textkonsumation auf 3,9 Zoll eher mäßig angenehm ist. Dorthin stattdessen etwa die Musikstreaming-App auszulagern und dafür den Browser am großen Bildschirm zu verwenden, ergibt wesentlich mehr Sinn.

Auch hier gilt aber wieder die Einschränkung, dass nicht jede App auf dem Zweitbildschirm mangels formattauglichem Interface gut nutzbar ist. Immerhin können aber sogar drei Apps gleichzeitig genutzt werden, wenn man am Hauptscreen zwei Programme im "Multi Window"-Modus öffnet.

Das Systeminterface verwandelt sich bei ausgeklapptem Bildschirm in ein Karusselmenü. Das wäre praktisch, könnte man einfach eigene Apps hinzufügen oder entfernen. Es zeigt eine Standardauswahl an Programmen sowie die letzten paar geöffneten Programme an. Mehr Flexibilität

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Insgesamt lässt sich sagen, dass in dem "T-Format" einiges an Potenzial steckt, das LG Wing davon aber mehr zeigen könnte. Ob viele App-Anbieter zur Unterstützung eilen werden, wird sich zeigen. Zu jenen, die immerhin schon an Bord sind, gehört Microsoft, das seiner Outlook-App ein duales Interface für die Verwendung am neuen LG-Handy angepasst hat.

"Gimbal"-Kamera als Gimmick

Auch die vorinstallierte Kamera-App macht Gebrauch vom Zweitdisplay und bietet damit einen sogenannten "Gimbal"-Modus an. Dieser verspricht verstärkte Bildstabilisierung und bietet Features wie einen Modus für Kameraschwenks, in denen das Gerät versucht, den Aufnahmewinkel möglichst parallel zum Horizont zu halten. Ein virtueller Joystick soll dabei die Führung vereinfachen

DER STANDARD

In der Praxis ist der Gimbalmodus weitestgehend leider nur eine Spielerei. Denn um seine Features erst zu ermöglichen zeigt sich im Sucher nur ein Teil des für die Kamera sichtbaren Bereichs, den man sehr wohl zu sehen bekommt, wenn man die App ohne Zweitbildschirm verwendet. Und das schlägt sich deutlich auf die Videoqualität nieder. Mit dem virtuellen Joystick Schwenks zu machen führt zudem zu einer nicht besonders gleichmäßigen Bewegung (siehe erster Schwenk nach rechts und links im Video). Die optische Bildstabilisierung der Kamera leistet hier viel bessere Dienste, wenn man das Smartphone einfach selber mit der Hand führt (weiter Schwenk).

Für Fotos eignet sich der Gimbal-Modus auch nicht, denn diese sind dort faktisch Screenshots des Suchers in Full-HD-Auflösung. Unverständlich ist, warum man nicht zumindest auf die normalen Kamerafunktionen umschalten und die Gimbal-Features verzichten kann, um die Kapazitäten der Kamera mit ausgelagerten Steuerungsfunktionen verwenden kann. Das ist leider nur bei eingeklapptem Display möglich. LG hat hier einiges an Potenzial verschenkt.

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Gute Fotoqualität

Das ist doppelt schade, denn die Hauptkamera mit ihren drei Sensoren (64 MP Weitwinkel, 13 MP Weitwinkel und 12 MP Ultraweitwinkel) liefert ganz passable Ergebnisse. Fotos gelingen scharf und mit sehr akkurater Farbwiedergabe, selbst an einem verhangenen Wintertag. Hervorzuheben ist, dass alle drei Sensoren in der Darstellung sehr nahe aneinander liegen, wie sich bei Aufnahmen des gleichen Motivs in unterschiedlichen Zoomstufen zeigt.

Bei kleineren Details, speziell im Hintergrund, geht das Postprocessing manchmal zu aggressiv vor und an den Bildrändern neigt die Kamera zu teils deutlichen Unschärfen. Und wenn der Abend anbricht, dauert das Fokussieren von Motiven oft einen Moment länger, als bei den Flaggschiffen von Apple, Google, Samsung und Co. Der (etwas versteckte) Nachtmodus arbeitet nicht ganz zuverlässig. Wenn es sehr dunkel ist, benötigt er viel Zeit für Belichtung und Postprocessing, liefert dann aber trotzdem bröselige Ergebnisse. Bei besseren Bedingungen wird das Foto fast sofort erzeugt und sieht recht passabel aus. Es gibt aber eine gewisse Neigung dazu, den Nachthimmel zu stark aufzuhellen, weswegen er dann Dunkelgrau statt schwarz erscheint.

Recht brav schlägt sich die Frontkamera (32 MP) und überzeugt mit hoher Detailtreue. Sie sitzt in einem ausfahrbaren Modul, was etwas Bedenken ob der langfristigen Haltbarkeit aufwirft. Immerhin lässt sich aber bestätigen, dass die Fallerkennung des LG Wing gut funktioniert und die Kamera blitzschnell einzieht, wenn das Handy hinab fällt.

Snapdragon 765 und 5G

Zeit, sich später als üblich, dem Innenleben des Telefons zu widmen. Als Rechenknecht kommt hier Qualcomms Snapdragon 765G zum Einsatz, also nicht das Spitzenmodell 865. Er kann auf acht GB RAM zugreifen, dazu gibt es – je nach Modell – 128 oder 256 GB Onboardspeicher. Dieser lässt sich per microSD-Karte erweiteren, wenn man bereit ist, dafür einen der zwei microSIM-Slots zu opfern. Das Handy unterstützt LTE und den neuen Mobilfunkstandard 5G, dazu gibt es Wifi 5 (802.11ac), Bluetooth 5.1 und NFC.

Foto: DER STANDARD/Pichler

In Sachen Performance erfüllt das Wing die Erwartungen. Im Prinzip ist der eingebaute Chip allen Herausforderungen gewachsen, einzig bei sehr anspruchsvollen, neueren Games wird die Grafikqualität, dem subjektiven Eindruck nach, etwas zurückgeschalten. In Benchmarks schneidet er hingegen deutlich unter seinem Wert ab, was angesichts der praktischen Erfahrung einfach ein Softwareproblem sein dürfte.

System, Akustik, Akku

Vorinstalliert ist Android 10, ein Update auf Version 11 wird folgen. LG hat die Oberfläche grafisch auch abseits der Dual-Display-Notwendigkeiten angepasst und dabei auf gröbere Verschlimmbesserungen verzichtet. Puristen dürfte stören, dass der Appdrawer standardmäßig abgedreht ist und alle Apps über die Homescreens verstreut werden. Das lässt sich allerdings in den Systemeinstellungen ändern.

Akustisch schwankt das LG Wing zwischen superber Performance und unspektakulärem Durchschnitt. Die Sprachqualität beim Telefonieren ist sehr gut und die Rauschunterdrückung von Seiten des Handys klappt hervorragend. Selbst wenn man neben der voll aufgedrehten Ablüftung eines Herdes steht, ist das für das Gegenüber – abseits gelegentlicher Tonartefakte – nicht wahrnehmbar. Der Mono-Lautsprecher des LG Wing hingegen plärrt Musik zwar ohne großes Scheppern oder Rauschen vor sich hin, lässt aber Töne in höheren und tieferen Tonlagen dennoch stark leiden.

Hinsichtlich der Akkulaufzeit zeigt sich das LG Wing trotz der zwei Bildschirme solide. 4000 mAh fasst der Energiespeicher, der dank Quickcharge 4-Support über den USB-C-Port (USB 3.1) auch binnen einer halben Stunde zu rund zwei Dritteln aufgefüllt ist. Gemächlicher geht es via Wireless Charging, das ebenfalls unterstützt wird. Mit einer Ladung kommt man auch bei intensiverer Nutzung über den Tag.

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Fazit

Das LG Wing ist ohne Zweifel ein spannendes Handy, dessen Alleinstellungsmerkmal echten Mehrwert bieten kann. Leider ist die Palette an Apps, die davon erweiterten Gebrauch machen, noch überschaubar. Und bei der Kamera verschenkt LG die Chancen auf sinnvollen Einsatz und liefert dafür eine "Gimbal"-Funktion mit geringem Mehrwert.

Der Schwenkmechanismus für den Bildschirm wirkt sehr robust und hielt ihn im Test stets zuverlässig an Ort und Stelle. Ob das auch langfristig so ist – wie LG verspricht – wird man freilich sehen. Dazu kommen ein recht rundes Hardwarepaket mit passabler Kamera, wenngleich diese nicht ganz am Niveau aktueller Flagships mitspielt.

Preistechnisch liegt das LG Wing allerdings über so manchem Flaggschiff mit flotterer Hardware, aber zumindest auch deutlich unter faltbaren Smartphones. Es wäre wünschenswert, eine Weiterentwicklung des Formfaktors zu sehen, doch angesichts des noch begrenzten Nutzens bleibt das Handy ein spannendes Experiment für Enthusiasten und Early Adopter. (Georg Pichler, 13.12.2020)

Testfotos

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Tageslicht
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Gemischte Lichtsituation
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Nachtmodus
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Nachtmodus
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