Spätnachts, Anfang Dezember vor 17 Jahren, setzte sich mein Großvater eine Pistole an den Kopf und erschoss sich. Im Alter von 78 Jahren wollte er nicht mehr. Sein Leben lang war er kerngesund gewesen, als Landwirt die meiste Zeit an der frischen Luft und in Bewegung. Doch dann kamen eineinhalb Jahre mit schwerer Krebskrankheit und langen Spitalsaufenthalten. Eine Untersuchung damals im Herbst verhieß nichts Gutes, und vor allem mehr Schmerzen. Er hatte Angst, seine Handlungsfähigkeit und Autonomie vollkommen zu verlieren. Das wollte er nicht. Auf dem Partezettel war zu lesen "nach schwerer Krankheit verstorben". Über seinen Suizid konnte damals in der Familie niemand sprechen. So nachvollziehbar seine Entscheidung war, es hinterließ in der Familie ein Trauma und Bilder, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen.

In den kommenden Dezembertagen entscheidet der Verfassungsgerichtshof, ob das strafrechtliche Verbot der aktiven Sterbehilfe und der Mithilfe zum Suizid aufgehoben werden soll. Der ORF hat die Ausstrahlung eines Fernsehfilms zu diesem Thema mit Verweis auf die Pandemie kurzfristig abgesagt. Doch diese Frage nach der Legalisierung der Sterbebegleitung ist zu wichtig, als sie jetzt mit einem Tabu zu belegen und die Diskussion einem Richterkollegium allein zu überlassen.

Abschied in Würde

Im Sommer hatte ich die Gelegenheit, die Ärztin Marion Schafroth kennenzulernen. Sie ist Präsidentin von Exit, der größten Sterbehilfeorganisation der Schweiz. Bei unserem Gespräch erzählte sie mir, wie unter sehr strengen Auflagen die Freitodbegleitung in unserem Nachbarland legal ist. Urteilsfähigkeit und Schutz vor Fremdbeeinflussung müssen sichergestellt sein, bevor jemand professionelle Hilfe in Anspruch nehmen kann. Schwer Demenzkranken wäre dies bei Exit nicht möglich, weil die Urteilskraft nicht mehr besteht. In den Vorgesprächen werden auch palliativmedizinische Alternativen besprochen.

Foto: Imago / Becker&Bredel
"Das Recht und die Möglichkeit, den Sterbezeitpunkt zu bestimmen, hilft vielen Menschen sogar, ihren Kampf ums Leben fortzuführen."

Ich denke mir oft, was wäre gewesen, wenn für meinen Großvater Sterbebegleitung möglich gewesen wäre. Ich würde im Dezember vielleicht nicht an seinen gewaltvollen Suizid, sondern womöglich an einen Abschied in Würde zurückdenken. Von Marion Schafroths Erzählungen weiß ich, dass das Recht und die Möglichkeit, den Sterbezeitpunkt zu bestimmen, vielen Menschen sogar hilft, ihren Kampf ums Leben fortzuführen. Was anfänglich paradox für mich klang, machte nach ihren Ausführungen Sinn. Alleine die Freiheit, gehen zu können, kann ihnen das Gefühl geben, der Krankheit nicht ganz ausgeliefert zu sein.

Kein Einzelfall

Bei uns bleibt einem Todkranken, der nicht mehr leiden will, bisher nur die Möglichkeit des aktiven Suizids oder die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme zu verweigern. Die Selbstmordrate ist wohl auch deshalb bei den über 75-Jährigen in Relation zur Gesamtbevölkerung am höchsten. Mein Großvater war kein Einzelfall.

Das ist meine Perspektive, eine von vielen unterschiedlichen, die wir zu einer Urteilsbildung bräuchten, um zu entscheiden, wie wir in Zukunft mit dem Sterben umgehen wollen. Gerichtsentscheide können uns diesen Prozess als Gesellschaft nicht abnehmen. (Philippe Narval, 30.11.2020)