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Boris Johnson könnte sich zwischen Härte bei Corona und Nachgeben beim Brexit entscheiden müssen. Beides werden die Hardliner in seiner Partei vermutlich nicht mittragen.

Foto: AP / Adrian Dennis

In den Verhandlungen über den Brexit-Nachfolgevertrag sind schon viele Termine verstrichen. Geblieben aber ist die lauthals versicherte und gesetzlich festgelegte Absicht Großbritanniens, zu Silvester aus der bisherigen Übergangsfrist auszuscheiden. Insofern kommt den am Wochenende begonnenen neuen Gesprächen der beiden Chefunterhändler David Frost und Michel Barnier in London wachsende Bedeutung zu. Man sei "auf der letzten Etappe", heißt es in britischen Regierungskreisen; ausgeräumt werden müssten jedoch "die bekannten erheblichen Divergenzen", teilte der Franzose vor seiner Ankunft in der britischen Hauptstadt mit.

Beiden Teams zufolge sind weite Teile des mehrere Hundert Seiten umfassenden Vertragstextes unterschriftsreif, darunter auch schwierige Felder wie Verkehr und Energie. Freilich hängt die Gesamteinigung von Kompromissen bei drei Themen ab: Welche Garantien gegen unfairen Wettbewerb durch britische Staatshilfen für Unternehmen erhält Brüssel? Wie werden zukünftige Konflikte geregelt? Und wie groß ist der Zugewinn für die britische Fangflotte in den Gewässern rund um die Insel?

Londons Souveränität beim Fischfang

Beim letzten Thema beharrte die EU-Seite monatelang auf dem Status Quo, der wichtigen Fischfangnationen wie Frankreich, Spanien und den Niederlanden großzügigen Zugang einräumt. Am Freitag ließ Barnier durchsickern, er habe den Briten schon vor Wochen erstmals ein neues Angebot gemacht: Demnach würde die EU auf bis zu 18 Prozent der bisherigen Quoten verzichten, was einem wirtschaftlichen Verlust von rund 120 Millionen Euro entspräche. "Lächerlich" sei diese Vorstellung, betonten die Briten und pochen auf die "Souveränität unseres Fischfangs" – Beweis dafür, dass der volkswirtschaftlich völlig unbedeutende Sektor auf beiden Seiten hohe Emotionen freisetzt.

Von der EU erwarte man mehr Pragmatismus, ließ Außenminister Dominic Raab am Sonntag die TV-Sender wissen. In der öffentlichen Wahrnehmung werden die Gespräche jedoch völlig überschattet von der anhaltenden Diskussion über die neuesten Corona-Beschränkungen in England. Dass Premier Boris Johnson im Kampf gegen die Pandemie einen Schlingerkurs eingeschlagen hat und viele Entscheidungen wenig nachvollziehbar erscheinen, stößt zunehmend auf lautstarke Kritik. Das verringert den Spielraum des konservativen Parteichefs für schmerzhafte Kompromisse, die unweigerlich auf den Widerstand der Brexit-Ultras in der Unterhausfraktion stoßen werden.

Sackgasse auch für Labour

Streit gibt es auch bei der Labour-Opposition über die Frage, ob man einer letztlich doch erzielten Vereinbarung die Zustimmung erteilen solle. Parteichef Keir Starmer und seine Brexit-Spezialistin Rachel Reeves halten die parlamentarische Besiegelung für unausweichlich; andernfalls signalisiere man den zuletzt in Scharen abgewanderten Stammwählern, die Arbeiterpartei sei noch immer nicht versöhnt mit dem Faktum des EU-Austritts. Hingegen warnen Kritiker vor einer politischen Sackgasse: Wenn Labour dem mutmaßlich sehr begrenzten Deal zustimme, stelle man den Konservativen "einen Blankoscheck aus", sagte der Parteilinke Clive Lewis dem "Guardian".

Wie auch immer die Verhandlungen über den zukünftigen Freihandelsvertrag enden – gute Nachrichten gab es zuletzt aus einer anderen Gesprächsrunde. Dabei geht es um die praktische Umsetzung des sogenannten Nordirland-Protokolls. Der britische Teil der grünen Insel verbleibt dem Austrittsvertrag zufolge im EU-Binnenmarkt, um die politisch sensible Durchlässigkeit der Landgrenze zur Republik Irland zu gewährleisten. Das schafft Probleme im Handel zwischen Nordirland und der britischen Insel. Die Delegationsleiter, der EU-Vizekommissionspräsident Maroš Šefčovič sowie Kabinettsbürominister Michael Gove, scheinen auf gutem Weg zu sein, hieß es in Brüssel.

Biden als Irlands Pate

Die für Mitte Dezember geplante Einigung würde London den eleganten Rückzug aus einer äußerst heiklen Lage ermöglichen. Drei Paragraphen im sogenannten Binnenmarktgesetz, das derzeit im britischen Parlament auf Eis liegt, rechtfertigen ausdrücklich den Bruch des erst im Januar ratifizierten Austrittsvertrages und damit geltenden Völkerrechts.

Diese Absicht der Johnson-Regierung sorgte nicht für Empörung auf dem Kontinent und energischen Widerstand im Oberhaus; unmissverständlich hat auch der nächste US-Präsident Joe Biden zu verstehen gegeben, dass der geplante anglo-amerikanische Freihandelsvertrag nicht in Frage komme, wenn London den fragilen Frieden in Nordirland aufs Spiel setzt. (Sebastian Borger aus London, 30.11.2020)