Ein äthiopisches Magazin sah den Krieg in Tigray am Wochenende als Schachspiel.

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Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed hat am Wochenende die Einnahme von Mekele, der Hauptstadt der Region Tigray, verkündet. "Die Regierungstruppen haben die Stadt Mekele völlig unter Kontrolle", hatte Abiy am Samstag mitgeteilt. Allerdings wurden am Sonntag noch Gefechte in der 500.000-Einwohner-Stadt gemeldet, sodass Zweifel blieben.

Berichte aus Mekele sind ohnehin mit Vorsicht zu behandeln, da die Provinzhauptstadt bereits seit über drei Wochen von der Außenwelt abgeschnitten ist. Am Samstag hatte Debretsion Gebremichael, Chef der aufständischen Tigray-Volksbefreiungsfront (TPLF), der Agentur Reuters von einem "schweren Bombardement" Mekeles berichtet. Auch der TV-Sender der Stadt berichtete von Beschuss, bevor das Signal am Samstag abbrach.

Verhaltener Widerstand

Mit Satellitentelefonen ausgerüstete NGO-Mitglieder bestätigten die Attacke auf Mekele. Der Widerstand der TPLF sei eher verhalten ausgefallen, hieß es weiter: Womöglich hätten die Aufständischen sie bereits verlassen. Auf die Frage, ob der Kampf der TPLF weiterginge, sagte Debretsion Reuters: "Auf jeden Fall. Wir werden unser Recht auf Selbstbestimmung mit unserem Leben verteidigen."

In den 1970er-Jahren hatte die TPLF in derselben Region einen jahrelangen Guerillakampf gegen die Herrschaft des Diktators Mengistu geführt, aus dem sie 1991 siegreich hervorging. Bis 2018 war sie die tonangebende Kraft in der äthiopischen Regierung. Erst mit dem Aufstieg von Premier Abiy Ahmed in sein Amt war es damit 2018 vorbei.
Ahmed, Sohn eines muslimischen Mitglieds der Oromo-Volksgruppe und einer christlichen Amharin (je etwa 30 Prozent der Bevölkerung), hatte Ende 2019 versucht, die Regierungspartei EPRDF umzubauen. Hatte diese unter der Führung der TPLF bis 2018 auf ethnischem Föderalismus bestanden, wollte Abiy mit dem Wandel zur "Wohlstandspartei" eine nicht auf Ethnie basierende gesamtäthiopische Einheitsbewegung schaffen.

Ressentiments auf allen Seiten

Weil dafür viele Tigray, die nur sechs Prozent der Bevölkerung stellen, entmachtet wurden, reagierte die TPLF mit Widerstand. Sie trat 2019 aus der Koalition aus. Als Abiy im Sommer 2020 die Wahl verschob und dies mit der Corona-Pandemie begründete, hielt die TPLF in Tigray dennoch einen Urnengang ab. Sie kündigte an, Abiy ab dem 5. Oktober, an dem sein Mandat ausgelaufen wäre, nicht mehr anzuerkennen.

Zudem warf sie ihm vor, vor dem benachbarten Eritrea in die Knie zu gehen. Mit dem Land, das sich 1993 von Äthiopien abspaltete, führte Äthiopiens Armee 1998 bis 2000 einen Grenzkrieg. Abiy gab beim Friedensschluss, den er 2018 unterzeichnete, Gebiete ab, die auch Tigray beansprucht. Im Zuge des aktuellen_Krieges beschoss die TPLF auch Eritreas Hauptstadt Asmara.

Seit Wochen Krieg

Der Krieg in der Region war ausgebrochen, als die TPLF mit einem_Überfall auf eine Militärbasis Anfang November auf den Aufmarsch äthiopischer Truppen an der Grenze zur Region reagierte. Addis Abeba wirft ihr ein Massaker in der Basis vor, die TPLF streitet dies ab. Für ein anderes Massaker der TPLF in einem von Amharen bewohnten Dorf hat hingegen auch die NGO Amnesty International Belege gesammelt.

Dass auch der Angriff auf Mekele Menschenrechte verletzt habe, bestritt Regierungssprecherin Billene Seyoum am Sonntag. Die Streitkräfte hätten die Stadt gar nicht unter Beschuss genommen. Zu deren Mission habe nicht gehört, "ihre eigene Stadt und das eigene Volk zu bombardieren". Über die Zahl der bei der Einnahme Mekeles ums Leben gekommenen Menschen gibt es bislang keinerlei Angaben. Allerdings berichtete das Komitee des Internationalen Roten Kreuzes am Sonntag von ernsthaften Engpässen bei der Versorgung der Verletzten in der Stadt. Es mangele auch an Leichensäcken. Bei den bisherigen Kämpfen hatte es offenbar tausende Tote gegeben, Zehntausende sind auf der Flucht – insbesondere in den Nachbarstaat Sudan.

Geiseln der Tigray

Nach Angaben der Regierung haben ihre Truppen inzwischen "tausende von Soldaten" befreit, die beim Ausbruch des Bürgerkriegs am 4. November von der TPLF als "Geiseln" genommen worden seien. Derzeit würden die "Verstecke" führender TPLF-Funktionäre in Mekele ausfindig gemacht, hieß es weiter. Dass sich die Rebellen noch immer in der Stadt aufhalten, gilt allerdings als unwahrscheinlich.

Abgesandte der Afrikanischen Union (AU) hatten in der vergangenen Woche versucht, einen Angriff der Regierungstruppen auf Mekele abzuwenden. Liberias Ex-Präsidentin Ellen Johnson Sirleaf sowie die ehemaligen Staatschefs Südafrikas und Mosambiks, Kgalema Motlanthe und Joaquim Chissano, trafen am Donnerstag in Addis Abeba mit Regierungschef Abiy zusammen, wurden jedoch daran gehindert, anschließend auch mit TPLF-Chef Debretsion in Kontakt treten zu können. Abiy bestand auf seiner bereits zuvor geäußerten Auffassung, das es sich bei dem Konflikt zwischen der bisherigen Führung der Tigray-Provinz und der Bundesregierung in Addis Abeba um eine "innere Angelegenheit Äthiopiens" handele. Verhandlungen mit der TPLF gäben "der Kultur der Straflosigkeit neue Nahrung" und hätten "verheerende Konsequenzen für das Überleben Äthiopiens", sagte Abiy.

Verfassungsrechtler wenden dagegen ein, dass das AU-Statut dem Staatenbund durchaus das Recht einräume, in einem Mitgliedsstaat einzugreifen, falls es dort zu "schwerwiegenden Vorfällen wie Kriegsverbrechen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschheit" komme. Der Angriff auf Mekele war von UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet wegen der Gefährdung der Zivilbevölkerung im Vorfeld als mögliches Kriegsverbrechen bezeichnet worden. Abiys Verhandlungs-Verweigerung verhöhne die Normen und Prinzipien der AU, kritisierte Alex de Waal, Direktor der Weltfriedens-Stiftung an der Tufts-Universität im US-Staat Massachusetts: "Diese Art der Konfliktlösung hinterlässt Wunden, die noch lange schwären werden." (Johannes Dieterich aus Johannesburg, Manuel Escher, 29.11.2020)