Graf Almaviva (Florian Boesch) nickt in Mozarts "Figaro" wieder mal ein.

Moritz Schell

Es gibt Figaro-Szenen, da wähnt sich der TV-Zeuge quasi im Kopf von Graf Almaviva: Beschwingt tanzt selbiger mit den puppenhaft erstarrten Figuren seiner Umgebung. Er gruppiert sie um, modelliert eine Art Familienaufstellung seiner Machtträume. Es sind Fantasien eines krisengeschüttelten Damenbelästigers mit aufdringlich gefärbtem Haar.

Die realen Verhältnisse sind der Stimmung des Hausherrn hingegen abträglich. So abgewirtschaftet die Räume seines Schlösschens, so mitgenommen scheint Almavivas tatsächliche Existenz. Der Herr der Erschöpfung mobilisiert seine Kräfte, wenn es um die Reste seiner Ehre geht, auch eher unverhältnismäßig: Es landet der übergriffige Almaviva ungebetenerweise zwischen den Beinen seiner Gräfin.

Gefährlicher Graf

Hier kippt die heiter durchchoreografierte Inszenierung von Alfred Dorfer und Regisseurin Kateryna Sokolova kurz ins Dramatische: Es ist ja die Szene einer kaputten Ehe, die durchs Hereinplatzen anderer Protagonisten vor der letzten Eskalation bewahrt wird. Der souveräne Florian Boesch gibt also einen gefährlichen Grafen, bei dem Hilflosigkeit zu Aggression wird.

Nichts an ihm ist jedoch eindimensional. Wenn die Gräfin (impulsiv: Cristina Pasaroiu) zerknirscht von ihrer doch noch existenten Zuneigung zu Almaviva erzählt, rotiert selbiger im Nebenraum zögerlich vor ihrer Tür. Auch in ihm scheint noch Zuneigung zu schlummern.

Midlife-Crisis

Gleichzeitig ist Almaviva jedoch unfähig, mit gewissen Fakten seines Lebens Kompromisse einzugehen. Lieber tobt er oder fleht Figaros Zukünftige Susanna an (sehr elegant: Giulia Semenzato), ihn zu erhören. Ihre Eroberung wäre für ihn die Simulation einer fernen Zeit, als das Haar noch ungefärbt war und die Verhältnisse unter seiner Kontrolle.

Nicht nur dieser von einer Midlife-Crisis geplagte Mann spielt hier eine zentrale Rolle. Tatsächlich kommen in dieser sehr präzisen Inszenierung auch dem Raum wesentliche Aufgaben zu. Nicht nur dreht und bewegt sich alles. Die sich weitenden oder zusammenrückenden Wände scheinen auch auf die Befindlichkeiten der Figuren zu reagieren. Dass das dynamische Raumregiekonzept (Christian Andrè Tabakoff) auch eine szenische Mehrstimmigkeit ermöglicht, ist jedoch nur fragmentarisch zu erleben. Mitunter gehen die Figuren samt ihren "Nebenhandlungen" im TV unter.

Grenzen der Toleranz

Zweifellos kommt allerdings rüber, wie intensiv in diesem Energiefeld von Macht und Begehren agiert wird. In Figaro hat der Graf einen jungen, dynamischen Gegenspieler. Robert Gleadow ist (als hervorragender Figaro) in seinem fast tanzend-humorigen Element. Die verwirrenden Situationen, die ihn an die Grenzen seines Toleranzvermögens treiben, lassen Figaro allerdings nicht dermaßen aus der Rolle fallen wie den psychisch unberechenbaren Grafen.

Letztlich aber demonstrieren die Damen größere innere Stabilität als die Herren. Cherubino (intensiv: Patricia Nolz) betört sie zwar alle. Schließlich jedoch bleiben die Gräfin und Susanna souveräne Herrscherinnen eines Spiels der Täuschungen, das eher surreal endet.

Nachdem alle Verstellungshüllen gefallen sind, alle Intrigen aufgedeckt, tanzt das Figurenkollektiv in einer alten Straßenbahnremise. Ganz besonders ausgelassen wirkt Almaviva, der sich hüpfend aus der Idylle eines "Happy-End-Fotos" verabschiedet. Womöglich fantasiert er wieder. Womöglich hegt er Pläne.

Besser mit Publikum

In jedem Fall würde es lohnen, diese gekürzte, jedoch in sich konzentriert wirkende Corona-Fassung des Figaro mit Publikum wiederaufzunehmen. Das insgesamt gute Ensemble würde es verdienen. Also auch Marcellina (Enkelejda Shkosa), Bartolo (Maurizio Muraro), Basilio (Andrew Owens), Don Curzio (Johannes Bamberger), Barbarina (Ekin Su Paker) und Antonio (Ivan Zinoviev).

Direkt – im Theater an der Wien – könnte auch der dynamische Klang samt den akzentuierten Einwürfen des Concentus Musicus unter der umsichtigen Leitung von Stefan Gottfried authentischer und unmittelbarer zum Vorschein kommen. Der musikalische Drive, der die Szenen energetisch auflud, kam auf ORF III zwar rüber. Gewisse Details wären jedoch nur vor Ort zu würdigen. (Ljubiša Tošić, 30.11.2020)