Nach eigener Einschätzung politisch nicht vertreten, ungerecht behandelt, versklavt von einem unverstandenen System: Corona-"Querdenker" bei einer Demo in Wien

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Wien – Die Zweifel daran, dass die Politik im Interesse der Bevölkerung handelt, reichen weit zurück. Zum Beispiel in den Oktober 1980. Damals befragte der Jugendforscher Erich Brunmayr Präsenz- und Zivildiener über ihre Haltung zur Politik. Damals hielten 43 Prozent der jungen Soldaten (und 41 Prozent der Zivildiener) folgende Aussage sehr richtig: "Es geht viel mehr um die Partei- als um Allgemeininteressen." Weitere 41 (beziehungsweise 46) Prozent der Befragten stimmten dem zumindest überwiegend zu.

Ähnlich hoch war unter den Befragten von 1980 die Ansicht verbreitet, dass es in der Politik ziemlich korrupt zuginge.

Diese Politikskeptiker von damals marschieren nun zielstrebig auf das Pensionsalter zu. Und manche marschieren bei den "Querdenkern" mit. Im Marschgepäck haben viele wohl auch ihre damals mit noch größerer Mehrheit geäußerte Überzeugung, dass trotz allem die Demokratie die beste Staatsform sei. Aber sie haben eben auch die – durch die Medien vermittelte – Erfahrung gemacht, dass es in den seither vergangenen 40 Jahren viele dubiose, skandalöse, fehlerhafte oder im Nachhinein betrachtet völlig falsche politische Entscheidungen gegeben hat.

Schritt 1: Abwendung von der Politik

"Die 80er-Jahre – Wende oder Ende?" hatte das "Profil" die Dekade mit einer Titelgeschichte eingeläutet, und das Jahr 1980 markierte tatsächlich in gewisser Weise einen Wendepunkt: Bruno Kreiskys SPÖ war 1979 mit 51-prozentiger Mehrheit ausgestattet worden – im Schatten dieses Erfolges schwelten ein Bauskandal um die Errichtung des Wiener AKH und ein parteiinterner Konflikt um die Privatgeschäfte von Finanzminister Hannes Androsch. In Zwentendorf stand ein betriebsbereites, aber per knappem Volksentscheid abgelehntes Atomkraftwerk (Kosten inklusive Einmottung 14 Milliarden Schilling, also etwa eine Milliarde Euro).

Rudolf Kirchschläger, im Mai 1980 von 79,9 Prozent der Wählerschaft als Bundespräsident bestätigt, sprach wenige Monate später die berühmten Worte von Sümpfen und sauren Wiesen der Korruption, die trockengelegt werden müssten.

Die Präsidentschaftswahl 1980 zeigte ein damals unterschätztes Phänomen auf: Trotz Wahlpflicht gaben nur 91,6 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab – und 7,3 Prozent der abgegebenen Wahlzettel waren ungültig. Man führte das damals darauf zurück, dass die ÖVP darauf verzichtet hatte, einen Gegenkandidaten zum populären Kirchschläger aufzustellen. Tatsächlich aber begann 1980 eine amorphe Gruppe von Nichtwählern zu entstehen. Sie wuchs bei bundesweiten Wahlen immer weiter an – mit Höhepunkten bei der Nationalratswahl 2013 (25 Prozent Nichtwähler plus 1,87 Prozent ungültig Wählende) und der Bundespräsidentenwahl 2010 (46,4 Prozent Nichtwähler plus 7,1 Prozent ungültig Wählende).

Schritt 2: Mangel an Bindung

Vor 40 Jahren hatten SPÖ und ÖVP jeweils 720.000 Mitglieder. Heute sind es rund 158.000 bei der SPÖ. Bei der ÖVP sind es immer noch mehr als 500.000 – allerdings sind von diesen mehr als 300.000 beim Seniorenbund, was darauf hindeutet, dass sich auch von jüngeren Menschen im konservativen Lager immer weniger an die Volkspartei binden wollen.

Das ging einher mit dem Autoritätsverlust der Parteichefs dieser Parteien. Alle ÖVP-Obleute, die es nicht zur Kanzlerschaft gebracht haben, könnten ein Lied davon singen; aber selbst Bundeskanzler wie Alfred Gusenbauer und Werner Faymann waren nicht davor gefeit. Und seit dem Kirchschläger-Nachfolger Kurt Waldheim war es auch mit dem moralischen der Bundespräsidenten nicht weit her: Selbst gegenüber dem weitgehend untadelig agierenden Amtsinhaber Alexander Van der Bellen hegen noch beachtliche Teile der Wählerschaft (ein Großteil jener, die lieber Norbert in der Hofburg gesehen hätten) Vorbehalte.

Gleichzeitig mit der Abkehr von den Parteistrukturen musste auch die Kirche an Deutungshoheit einbüßen – seit Jahrzehnten feiert sie es als bereits als Erfolg, wenn die Zahl der Austritte nicht steigt. In nüchternen Zahlen sank die Zahl der Katholiken seit 1981 von 6.372.645 auf 4.984.633. Umfragen belegten, dass es dem Großteil der Bevölkerung weitgehend egal ist, was die Kirche lehrt.

Ähnlich erging es im linken Lager dem ÖGB, der seinen Mitgliederhöchststand 1981 mit 1,677 Millionen hatte, heute sind es 1.216.810 (Pensionisten jeweils mitgerechnet).

Schritt 3: Verschärfung der Sprache

Gerade im sozialpartnerschaftlich orientierten und Koalitionen (außer zwischen 1970 und 1983) gewohnten Österreich ist man gewohnt, Konflikte mit Kompromissen zu lösen – und mit Festlegungen im Vorfeld einer Verhandlung zurückhaltend zu sein. Das hat vor allem den großen Parteien, denen Mitglieder und Wähler davongelaufen sind, zu einem Umdenken geführt. Man müsse "kantiger" werden, hieß es vor allem in den Parteien, die ab 1983 gerade in einer Koalition waren.

Vor allem galt das für die ÖVP, die seit 1987 ständig Probleme hat, scharfe Konturen zu ihrem jeweiligen Koalitionspartner zu entwickeln – und das mal durch Abgrenzungen, ein andermal durch Übernahme von Positionen getan hat. Das führte zu immer markigerer Wortwahl. Ähnlich lief es in der SPÖ: Aus "Gegnerschaft" wurde zumindest in der Wortwahl "Feindschaft", also etwa aus einer "migrationskritischen" Haltung eine "fremdenfeindliche".

Eine gleichzeitige Verbreiterung der Medienlandschaft – um 1980 gab es weder Gratiszeitungen noch Privatradio und Privatfernsehen, "neue" Medien im Internet schon gar nicht – machte es für politische Akteure notwendig, schärfer zu formulieren, um überhaupt Aufmerksamkeit zu gewinnen.

Das drang in die Alltagssprache ein – wer schriller auftritt, findet zunehmend Gehör.

Schritt 4: Kritik als Daseinszweck

Aus der Medienkonkurrenz ergab sich auch eine prinzipiell kritischere Haltung aller Medienschaffenden – mit der Folge, dass jeder Schritt, jede Aussage und jede Handlung von Politikern hinterfragt werden. Der kleinste Fehler bietet die Chance zur Skandalisierung, die vageste Vermutung einer Rechtswidrigkeit wird zum Fall für die Justiz. Was dabei herauskommt, ist gar nicht so wichtig – und wenn sich ein vermeintlicher Skandal in Luft auflöst, findet sich verlässlich ein Politiker oder Experte, der darin den nächsten Skandal sieht.

Leserbriefe und Userpostings unterstützen das: Wer zum "Querdenken" neigt, der nimmt gern Journalisten in die Pflicht. Die Medienmacher werden von ihren Konsumenten belehrt, dass sie die "Pflicht" hätten, die Regierung zu kritisieren. Und wenn (vermeintliche) Ungerechtigkeiten nicht zur Sensationsgeschichte führen, wird das als Beleg dafür genommen, dass "Mainstreammedien" ohnehin nur vertuschen.

Da bedient man sich lieber in den Alternativmedien. In den Jahren nach 1968 waren diese eine Domäne der der linken Gegenkultur, zuletzt werden sie aber immer stärker von Obskuranten und Rechtextremen beherrscht und gefüllt.

Schritt 5: Rein in die Parlamente – und wieder raus

In den 1980er-Jahren hat die Meinungsforschung erkannt, dass es in Österreich ein Potenzial von 18 bis 20 Prozent der Wahlberechtigten gibt, die eine generelle Unzufriedenheit gegenüber dem politischen System haben. Mit deren Protest gegen Atomkraft (Schlagwort: "Atomstaat"), Datenmissbrauch (Schlagwort: "1984"), Wehrdienst (Schlagwort: "Militarisierung") oder gewisse Produkte (Schlagwort: "Konsumterror") ist in vielen Fällen der Wunsch nach einem ganz anderen Staat, eventuell auch nach gar keinem Staat, verbunden.

Solche Vorstellungen gab es natürlich ebenfalls schon in den 1980er-Jahren – bei der Bundespräsidentenwahl 1980 erhielt der erklärte Rechtsextremist Norbert Burger 140.741 Stimmen. Bei der folgenden Nationalratswahl 1983 blieb die Ausländer-Halt-Bewegung mit 3914 Stimmen zwar bedeutungslos.

Doch eine 1982 (ein Jahr vor der Wahl) durchgeführte Studie der Dr.-Fessel- und GfK-Gesellschaft für Konsum-, Markt- und Absatzforschung hatte ergeben, dass es in Österreich ein Potenzial von vier Prozent für eine "Partei gegen die Beschäftigung von Gastarbeitern und gegen die Flüchtlingshilfe", von zehn Prozent für eine "Partei für wirksame Verbrechens- und Terrorbekämpfung und für einen härteren Strafvollzug" sowie von sechs Prozent für eine Familienpartei gegeben hat.

Alle diese Themen lagen immer noch auf dem Tisch, als Jörg Haider 1986 die FPÖ übernommen hat – und Haider trimmte die Partei mit diesen Inhalten auf einen stramm nationalen Kurs. Auf der anderen Seite sammelten die Grünen mit großer Mühe die sehr unterschiedlich motivierten Anhänger von Anti-Atom- und Friedensbewegungen sowie die diversen Umweltschutzgruppen auf – ein Potenzial, das in der Umfrage von 1982 (ziemlich deckungsgleich mit folgenden Wahlergebnissen) auf vier Prozent geschätzt wurde.

Durch die Vertretung im Parlament wurden viele der Anhänger von Protestgruppen zumindest zeitweise ruhiggestellt.

Aber sowohl FPÖ als auch Grüne hatten bei den folgenden Wahlen ziemlich untreue Wähler und regen Austausch mit den Wählerschaften anderer Parteien und vor allem mit der groß gewordenen Gruppe von Nichtwählern. Spätestens mit der Regierungsbeteiligung dieser Parteien wurden die als Wähler untreuen "Querdenker" nachdenklich: Sie fühlten sich nicht wirklich in den Parlamenten und schon gar nicht durch die Regierungen vertreten.

Schritt 6: Empfundenes Unrecht

Und ist das nicht ungerecht? Heißt Demokratie nicht "Volksherrschaft" – und nicht etwa Beherrschtwerden durch eine Regierung, eine Elite, eine Wirtschaftslobby die Unangenehmes vorschreibt? Die Zweifler brauchen oft nur einen kleinen Anstoß, um aus dem breiten gesellschaftlichen Konsens herauszukippen.

Die Grundlage dafür lässt sich aus einer Serie von Umfragen herauslesen, die das Linzer Market-Institut für den STANDARD durchgeführt hat. Demnach glauben 50 Prozent der Männer und sogar 68 Prozent der Frauen, dass es in Österreich "alles in allem" eher ungerecht zugeht. Dieses Gefühl der Ungleichbehandlung ist kulturell tief verankert (es durchzieht bereits die Bücher der Bibel) und wird von religiösen und politischen Bewegungen je nach Lage neu befeuert, obwohl etwa die christliche Religion Neid als sündhaft bezeichnet.

Entgegen dem allgemeinen Gefühl, dass die Gesellschaft ungerecht wäre, sagen doch 74 Prozent der österreichischen Wahlberechtigten, dass sie selbst gerecht behandelt würden. Aber da bleibt eben noch ein gutes Viertel, das das Gefühl hat, Unrecht zu erleiden – erklärte Nichtwähler sind in dieser Gruppe besonders stark vertreten.

Für dieses gefühlte Unrecht gibt es einen ganzen Strauß an mehr oder weniger berechtigten Auslösern. Ein gängiges Erklärungsmuster ist, dass sich Menschen abgehängt fühlen, die erleben, dass für alle möglichen anderen Gruppen – je nach persönlicher Perspektive können das Frauen, Manager, Homosexuelle, Ausländer, Nichtraucher oder Radfahrer sein – Verbesserungen erreicht werden, während man selbst die Folgen einer auseinandergehenden Einkommensverteilung zu tragen hat. Kommt dann ein Rauchverbot, eine Maskenpflicht oder sonst eine (wenn auch nur subjektiv wahrgenommene) Einschränkung der persönlichen Freiheit dazu, ist für etliche Menschen die Grenze des Erträglichen erreicht.

Und sie haben derzeit viel Zeit, quer zu denken. (3.12.2020, Conrad Seidl)