Stefan Apostol ist der Vorsitzende des Geschworenenprozesses gegen Raphael L., der im Juni in einem öffentlichen Verkehrsmittel einen Kontrahenten lebensgefährlich verletzt hat.

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Wien – "Es geht in diesem Fall nicht darum, was, sondern wieso etwas passiert ist", wendet sich Verteidigerin Zsuzsanna Parczer im Prozess gegen ihren Mandanten Raphael L. an das Geschworenengericht unter Vorsitz von Stefan Apostol. Hat der 24-Jährige am 25. Juni in einem Waggon der U-Bahn-Linie 3 einen Mordversuch begangen, wie die Staatsanwältin angeklagt hat? Oder war der 13 Zentimeter tiefe Messerstich bis in die Lunge von Opfer Vedran M. quasi eine Notwehrüberschreitung, wie Parczer es darstellt?

Fest steht, dass der unbescholtene Angeklagte um die 1,9 Promille hatte, als er kurz nach Mitternacht in Wien-Simmering mit seiner Freundin, mit der er drei Kinder hat, in die orange U-Bahn-Linie einstieg. Laut eigenen Angaben hatte er zuvor mit seiner Lebensgefährtin eineinhalb Flaschen Wodka geleert, um ihren Geburtstag nachzufeiern. "Wie beeinträchtigt waren Sie?", will Apostol von L. wissen. "Sehr", lautet die knappe Antwort. "Wie definieren Sie das?" – "Ich wollte nur noch heim, und mir war schlecht."

Täglicher Wodkakonsum

Was vom psychiatrischen Sachverständigen Peter Hofmann angezweifelt wird. Er geht davon aus, dass der in einem Obdachlosenheim wohnende L. ein Alkoholiker ist. Bei der Untersuchung hatte er noch davon gesprochen, dass er täglich mehrmals vier Zentiliter Wodka trinke und zwei-, dreimal im Monat einen Vollabsturz habe.

Bei der Station Volkstheater stieg M. zu, mit einem Skateboard in der Hand und einem ähnlichen Alkoholspiegel. Das Sportgerät fiel dem 28-Jährigen herunter, L. fand das lustig. Es entwickelte sich ein Wortgefecht zwischen den beiden, M. gibt auch zu, den Angeklagten "Vollspasti" genannt zu haben.

Zwischen Volkstheater und der nächsten Station Neubaugasse eskaliert die Auseinandersetzung. Auf den Zeitrafferaufnahmen der Überwachungskamera der Zuggarnitur ist zu sehen, wie M. aufsteht, die nächsten Bilder zeigen bereits, wie er L. in der Station aus dem Waggon schubst.

Gesichtsmaske oder Küchenmesser?

Die Kameras auf dem Bahnsteig zeigen, dass der Angeklagte auf dem Boden liegt, sich gleich wieder aufrafft und zurück in den Zug geht. Dabei hält er etwas in der linken Hand, über dessen Wesen Verteidigerin und Vorsitzender nicht einer Meinung sind. Parczer glaubt, es handle sich um die schwarze Mundmaske ihres Mandanten. Apostol sieht etwas ganz anderes und fragt L.: "Schaut das, was Sie da in der Hand haben, groß und weich aus oder klein und spitz?" Der Angeklagte muss zugestehen, dass er da wohl schon das Küchenmesser in der Hand habe. Bei der Polizei hatte er unmittelbar nach dem Vorfall noch angegeben, er habe es erst nach dem Wiedereinstieg aus seinem Rucksack geholt.

Bis zur nächsten Station, der Zieglergasse, passiert laut der Videoaufzeichnungen Folgendes: Nachdem er L. hinausgeworfen hat, geht M. im Zug zurück. Als der Angeklagte wieder in der Garnitur ist, geht seine Freundin M. nach, der Angeklagte folgt ihr. Das Opfer steht dann im Gang, beide Hände an den Haltestangen links und rechts von ihm, und redet mit dem Pärchen, als er plötzlich von L. gestochen wird.

L. und seine Partnerin verlassen in der Zieglergasse fluchtartig den Zug, M. setzt sich zunächst noch nieder und begutachtet zunächst noch seine Wunde. Andere Fahrgäste helfen ihm, am Westbahnhof wird er dann vom Notarzt behandelt und in ein Spital gebracht, wo er notoperiert wird.

"Ängstlicher" Bewaffneter

Der Angeklagte sieht sich trotz der Videos im Recht. "Er hat mich rausgeworfen, da war ich halt ängstlich", begründet er das gezückte Messer. "Wenn ich ängstlich bin, dann geh ich aber nicht zu M. hin!", kontert der Vorsitzende. "Ich wollte eigentlich meine Freundin holen, die ihm nachgegangen ist, da ist es zu einem Gerangel gekommen", versucht L. es weiter. "Das sieht man aber nicht. Er hat die ganze Zeit beide Hände an den Stangen", korrigiert Apostol. "Er hat sie mit der Brust weggedrückt", folgt als Erklärung. Und: "Ich habe mich voll erschreckt, als er den Stich hatte."

Denn an die Tat selbst könne er sich nicht erinnern, behauptet der Angeklagte, der unmittelbar danach einen Streifenwagen aufgehalten und sich gestellt hat. Nur in einem Punkt ist er sich sicher: "Ich habe keine böse Absicht dabei gehabt. Ich wollte ihn nicht schwer verletzen." Hat er aber, wie der gerichtsmedizinische Sachverständige Christian Reiter ausführt. Der Stichkanal beginnt knapp unter der linken Brustwarze und verfehlte die Lungenschlagader nur knapp – andernfalls wäre M. wohl nicht zu retten gewesen und verblutet.

Opfer spricht von zwei Stichen

Während die Lebensgefährtin des Angeklagten von ihrem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch macht, schildert der Verletzte als Zeuge, dass er das Messer schon vor dem Stich gesehen habe. "Da habe ich nur noch Schiss gehabt", fasst er seine Eindrücke zusammen. Die allerdings vage sind: Zunächst kann er sich nämlich nicht erinnern, L. aus der U-Bahn gestoßen zu haben. Dann erzählt er, es habe sogar zwei Stiche gegeben. Apostol mag das zunächst nicht glauben, die Staatsanwältin zitiert dann aber aus dem medizinischen Gutachten, dass es tatsächlich eine zweite, oberflächliche, Schnittverletzung im Brustbereich gibt.

Schmerzensgeld will M. nicht, dafür etwas anderes: "Ich war damals nicht versichert, die Krankenhausrechnung macht 11.000 Euro aus. Die zahlen meine Eltern jetzt in Raten ab, das Geld würde ich ihnen gerne zurückgeben", meldet er seinen Privatbeteiligtenanspruch an. L. akzeptiert, das Opfer kann das Geld nun 30 Jahre lang einfordern.

Viele Pläne für die Zukunft

Der Angeklagte skizziert auf Nachfrage seiner Verteidigerin seine Zukunftspläne in dieser Reihenfolge: "Ich möchte eine Alkoholentzugstherapie machen, zurück zu meiner Mutter ziehen, wieder Kontakt mit meinen Geschwistern und meinen Kindern und mir eine Arbeit suchen."

Nach rund zwei Stunden Beratung verneinen die Laienrichter den angeklagten Mordversuch mit sechs zu zwei Stimmen, sondern entscheiden sich mit diesem Stimmverhältnis für absichtliche schwere Körperverletzung. Eine Entscheidung, die aus Sicht der drei Berufsrichter ein Irrtum ist. Daher verkündet Vorsitzender Apostol, dass das Urteil ausgesetzt wird und ein weiterer Prozess mit neuen Richtern und Geschworenen stattfinden muss. (Michael Möseneder, 30.11.2020)