Arbeitet an einem neuen Narrativ, das uns helfen soll, die imponierende Intelligenz des Virus besser zu verstehen: Alexander Kluge (88), Polyhistor und Briefsteller an die Adresse Giorgio Agambens.

Foto: Matthias Ziegler

Der Lockdown zwingt auch geistig bewegliche Büchermenschen zum stationären Denkbetrieb. Autor Alexander Kluge (88) hat den verordneten Aufenthalt in seiner Frankfurter "Höhlenwohnung" jedenfalls zu einem besonders verblüffenden Beispiel von Briefstellerei genutzt. Sein jüngstes öffentliches Schreiben, vergangene Woche in der "FAZ" abgedruckt, wendet sich an einen prominenten Schicksalsgenossen südlich der Alpen, an den italienischen Philosophen Giorgio Agamben (78).

Kluge, der erzählende Polyhistor und Filmemacher, erinnert den in Venedig Lehrenden an gemeinsame Erörterungen. Beider – leider vergebliche – Bemühungen galten vor Jahren der Entwicklung einer Theorie des Terrors. Jetzt aber bekundet Kluge, die betörende Stimme der Vernunft, seine "Verblüffung" über Agambens jüngste Polemik.

Der Italiener hatte die zeitweilige Aussetzung der Bestattungsriten im vergangenen Frühjahr streng gegeißelt. Das Anti-Corona-Management der staatlichen Stellen schien dem Autor von "Homo sacer" Anlass genug, von einem Abgleiten in kulturelle "Barbarei" zu sprechen. Institutionen wie die Kirche hätten von ihren wichtigsten Praktiken, der Übung von Mildtätigkeit und der Gewährung körperlicher Nähe, unentschuldbar Abstand genommen.

Doch Kluge spinnt den pandemischen Erzählfaden an anderer, unvermuteter Stelle fort. Er nützt seine "Verblüffung" über Agambens Polemik, um für Verständnis zu werben. Objekt seiner Wiedergutmachungsleistung ist ausgerechnet der Erreger selbst: das Sars-CoV-2-Virus. Und so beschreibt der gelernte Jurist den unsichtbaren "Menschenfeind" gänzlich neuartig: als unsichtbaren Nachbarn und Zellenbewohner, der in Massen von Billionen auftritt.

Eine Art "Parallelevoluion"

Das Corona-Virus habe, so Kluge, eine "Parallelevolution" durchlaufen. Seine Vorfahren wären in unvordenklichen Zeiten in das menschliche Genom eingedrungen. Dort hätten die kleinen Migranten als "Überläufer" aus dem Reich der Viren neue, lohnende Aufgaben zugewiesen bekommen. Kluges Erzählung speist sich, wie der Briefschreiber zugibt, aus Material der Virologin Karin Mölling.

"Als ob sie träumten", verteidigen uns diese "Archaeviren", so Kluges Bezeichnung, gegen längst ausgestorbene Viren und Bakterien, die einst unsere Vorfahren bedrohten. Sie seien zu "Patrioten" unserer Spezies geworden. Umgekehrt ist das aktuelle Virus Sars-CoV-2 ein Meister des Täuschens und Tarnens. Es maskiert sich, um in menschliche Lungenzellen einzudringen, wie Odysseus. Es besitzt obendrein die Eigenschaft, die eroberte Zelle gegenüber nachrückenden Kollegen dichtzumachen. Kluge: "So, wie wir Europäer den Zuzug von Flüchtlingen aus Afrika nach Europa an der EU-Grenze abwehren."

Das Virus hat sich, ganz entgegen seinen Fähigkeiten, für eine Politik der Unsichtbarkeit entschieden. Es habe keinen Anlass gesehen, seine "robuste Kleinheit" abzulegen. Kluge zieht den Hut: "Viren sind nie Elefanten geworden." Sie seien unsichtbar und omnipotent, wie der "Warenfetisch". Ihnen eigne eine verblüffende "Intelligenz ohne Kopf". Sie ersetzen individuelles Denken durch permanentes Mutieren. Corona-Viren verlieren Moleküle, dagegen bauen sie unausgesetzt Fremdmaterial in sich ein.

Kunst der Freundlichkeit

Irgendwann wird das Virus vermutlich lernen, weniger "ungeschickt" an uns, seine Wirten, heranzutreten. Es werde die Kunst der Freundlichkeit erlernen. Alexander Kluge bittet Giorgio Agamben, mit ihm über ein neues, dem Virus gerecht werdendes "Narrativ" nachzudenken.

Tatsächlich speist sich seine eigene, packende Covid-Erzählung aus Mustern, wie sie die linke Hochliteratur des 20. Jahrhunderts exemplarisch hervorgebracht hat. Bertolt Brechts Gedichtzyklus "Aus einem Lesebuch für Städtebewohner" (1928) enthält lauter Maßregeln der Verstellung. Sie scheinen mikroorganisch anwendbar und sind allesamt geeignet, dem Virus die nötige Ausdauer und Beweglichkeit im Kampf ums Überleben zu verschaffen. Der Platz in der Zelle will verteidigt sein: "Suche dir Quartier, und wenn dein Kamerad anklopft: / Öffne, oh, öffne die Tür nicht / Sondern / Verwisch die Spuren!"

Mehr Gerechtigkeit für das Virus? Man darf auf Agambens Antwort auf Kluges Brief unbedingt gespannt sein. (Ronald Pohl, 1.12.2020)