Los von London – die Parole wird in Schottland immer beliebter.
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"Schottland ist eine Nation an der Schwelle: Wir haben die Unabhängigkeit klar im Blick." Zum Abschluss des virtuellen Jahrestreffens hat die schottische Ministerpräsident Nicola Sturgeon die Delegierten ihrer Nationalpartei SNP am Montag auf den bevorstehenden Wahlkampf eingestimmt. Während die Umfragen tatsächlich eine Mehrheit für die Loslösung von England sehen, muss sich die Edinburgher Politikerin zunehmend Kritik an ihrer seit 13 Jahren amtierenden Regierung gefallen lassen. Nicht zuletzt ist ihr Vorgehen im Kampf gegen die Corona-Pandemie ins Gerede geraten.

Bis in den Herbst hinein hatte Sturgeons stets vorsichtige und klar kommunizierte Politik gegen Sars-CoV-2 große Zustimmung gefunden. Die Schotten nahmen ihr Vorgehen als positiven Kontrast zum dilettantischen Schlingerkurs der für England zuständigen Regierung von Boris Johnson. Die Popularität des Konservativen stürzte ab, Sturgeon konnte sich im Glanz des Kompetenzbonus sonnen.

In den letzten Wochen aber machen Fachleute auf die Relativität dieser Sichtweise aufmerksam. In absoluten Zahlen, beispielsweise der Zahl der an Covid-19 Verstorbenen, schneidet der Norden der britischen Insel kaum besser ab als England; gemeinsam mit Wales und Nordirland liegt das Vereinigte Königreich in der traurigen Statistik europaweit hinter Belgien, Spanien und Italien auf Rang vier. In den vergangenen vier Wochen gab es in Schottland deutlich mehr Tote pro Million Einwohner zu beklagen als im Rest des Landes.

Strukturelle Probleme

Da spielten jahrzehntealte Faktoren wie die generelle Gesundheit der Bevölkerung eine Rolle, verteidigt sich Sturgeon durchaus zu Recht. So lag die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern im armen Osten Glasgows vor zehn Jahren bei 54 Jahren und damit auf dem Stand von Entwicklungsländern. Dass sich seither aber trotz starker Einschränkungen für Raucher und härterer Besteuerung von Alkoholfusel wenig verändert hat, fällt auf die SNP ebenso zurück wie der Unterschied zwischen Arm und Reich im Schulwesen. Ob es da nicht "eine Kluft zwischen hervorragender Darstellung und der Realität", gebe, musste sich Sturgeon vom schottischen BBC-Veteranen Andrew Marr fragen lassen.

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Nicola Sturgeon weiß eine Mehrheit der Bevölkerung in Sachen Unabhängigkeit hinter sich.
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Auch beim alten Nationalistentraum sieht keineswegs alles rosig aus. Zwar ist die Tendenz der Umfragen in diesem Jahr eindeutig: Ausreichend Schotten haben seit der Volksabstimmung 2014 (45:55 Prozent) ihre Meinung geändert, mittlerweile bekennt sich dauerhaft eine Mehrheit von bis zu 58 Prozent zur Auflösung der 1707 eingegangenen Union mit England.

Damit sei die Unabhängigkeit "aber keineswegs unausweichlich", sagt der bekannte Wahlforscher Professor John Curtice von der Glasgower Strathclyde-Universität. Denn der Aufschwung für den Alleingang sei an aktuelle Faktoren gekoppelt: Corona und Boris Johnson. Den weißblonden Engländer halten die Schotten mit großer Mehrheit für unzuverlässig, ungeeignet und an ihren Belangen uninteressiert. "Und die Öffentlichkeit denkt: Sturgeon ist gut mit der Pandemie umgegangen, Johnson schlecht." Ändere sich diese Vorstellung, regiere gar in London ein anderer Konservativer, könnte rasch auch die Unabhängigkeit unpopulärer werden.

Verzweifelt versuchen die örtlichen Tories, das miserable Image des Londoner Premierministers auszugleichen. Ein schweres Geschäft, leitete Johnson doch erst vor zwei Wochen wieder Wasser auf die Mühlen der Separatisten: Die Abgabe von Macht an das Parlament und die Regionalregierung in Edinburgh sei "ein Desaster" gewesen, teilte der Engländer im Zoom-Gespräch mit Parteifreunden mit.

Kritik an "Besessenheit" der SNP

Sofort fuhr ihm der neue regionale Tory-Chef Douglas Ross in die Parade: Nicht die Regionalisierung sei desaströs, vielmehr treffe der Begriff zu auf die "Besessenheit", mit der die SNP ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit anstrebt. Der Landwirt und Fußballschiedsrichter, 37, hat weite Teile seiner erst viermonatigen Amtszeit damit verbracht, sich von der Zentralpartei zu distanzieren. "Wir haben versäumt, das Land nach dem Brexit-Referendum zusammenzuführen", glaubt Ross. Das schmerzhafte Thema hat im Norden besondere Relevanz: Während Engländer und Waliser 2016 mehrheitlich für den EU-Austritt stimmten, wollten die Schotten mit 62-prozentiger Mehrheit (wie Nordiren mit 56 Prozent) im Brüsseler Klub bleiben.

Dass die Brexiteer-Regierung in London dennoch die denkbar härteste Trennung samt Austritt aus dem größten Binnenmarkt der Welt betreibt, treibt immer mehr Befürworter ins Lager der Unabhängigkeit. Und in den Umfragen zur Wahl im Mai liegt die SNP locker über 50 Prozent, allen Einwänden gegen Nicola Sturgeons Politik zum Trotz. (Sebastian Borger, 30.11.2020)