Seit Monaten lebt das Thema Migranten und Corona von Andeutungen und anekdotischer Evidenz. "Das Virus kommt mit dem Auto", sagte Kanzler Kurz im August und meinte die Urlaubsrückkehrer vom Westbalkan. In einer STANDARD-Reportage sprach ein Arzt aus Schwaz in Tirol, dem Bezirk mit den derzeit höchsten Corona-Zahlen Österreichs, von "großen Familienclans, ähnlich wie in der Türkei", die zum Infektionsgeschehen beitragen. In einem Interview mit der "Presse" berichtete ein Arzt des Klinikums Ottakring, dass "60 Prozent der Intensivpatienten Migrationshintergrund haben". Der Sprecher des Bundeskanzlers teilte das Interview fleißig auf seinen Social-Media-Kanälen, unkommentiert.

Was aber soll die Öffentlichkeit und was die politischen Entscheidungsträger mit den Anekdoten über Migranten, die angeblich das Virus munter weiterverbreiten, anfangen? In den Kommentarspalten der Zeitungen und in den sozialen Medien werden bereits Rückschlüsse gezogen: "Migranten verstehen die Maßnahmen und Verordnungen nicht, und wenn sie sie verstehen, dann ignorieren sie sie, denn es liegt halt in deren Kultur, sich bei jeder Gelegenheit zusammenzurotten." So weit, so falsch, vermutlich.

Das Risiko, an Covid-19 zu erkranken und an der Krankheit zu sterben, hängt stark von Beruf, Einkommen und Wohnverhältnissen der Menschen ab.
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In Österreich wird die überwiegende Mehrheit der positiv Getesteten nicht anonym getestet. Doch die individuellen Merkmale wie das Einkommen oder der Beruf werden nicht ausgewertet, ebenso wenig wie die Staatsbürgerschaft oder der Migrationshintergrund der Erkrankten. Es gibt also keine konkreten Zahlen zur Herkunft.

Benachteiligte Bevölkerungsgruppen

Was es aber sehr wohl gibt, sind die Erkenntnisse der sozialepidemiologischen Forschung. Diese beschreiben den Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und den Krankheits- und Sterberisiken. Das Risiko zu erkranken und an der Krankheit zu sterben hängt stark vom Beruf, Einkommen oder den Wohnverhältnissen der Menschen ab. Das gilt auch für Ländern mit einem gut funktionierenden Gesundheits- und Sozialsystem, wie Österreich eines ist.

Aus den USA und Großbritannien gibt es bereits Erkenntnisse, die sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen ein höheres Infektionsrisiko bezüglich Covid-19 und schwere Krankheitsverläufe bescheinigen. Eine Studie aus Deutschland besagt ebenfalls: Arme Menschen überwanden eine Corona-Infektion schlechter als Wohlhabende. Vorerkrankungen, die einen schweren oder tödlichen Corona-Verlauf begünstigen, wie Diabetes oder chronische Bronchitis, betreffen ebenfalls ärmere Bevölkerungsgruppen stärker als den Rest.

Diese Ungleichheit sollte unter dem Vorzeichen betrachtet werden, dass in Österreich Menschen mit Migrationshintergrund in großer Zahl in prekären Berufen arbeiten. Sie sind im Einzelhandel, in Industriebetrieben und in der Pflege stark vertreten. Berufe, in denen das Einhalten der Anti-Corona-Maßnahmen, wie zum Beispiel das Verbleiben im Homeoffice, schlicht nicht möglich ist.

Was aber sehr wohl möglich und schnell umsetzbar ist, sind Corona-Informationen in Migrantensprachen seitens der Bundesregierung. Dann wäre zumindest ein anekdotisches Argument nicht mehr valide, nämlich das von den mangelnden Deutschkenntnissen. Die Frage der sozialen Ungleichheit und der reflexartigen und diskriminierenden Rückschlüsse können wir nach der Corona-Krise angehen. (Olivera Stajić, 1.12.2020)