Seit vielen Jahren vergleiche ich den AHS-Oberstufen-Mathematikunterricht mit einem Kreuzworträtsel aus einer Illustrierten. Die ersten Wörter werden gemeinsam ausgefüllt und danach muss jeder schauen, wie er oder sie den Rest hinbekommt. Und genauso ist es mit Grundkompetenzen: Nur weil du in der Schule ein paar wenige Beispiele kennenlernst und (vielleicht) verstehst, folgt daraus nicht, dass das irgendeine Vorbereitung auf weitere Beispiele dieser Art sicherstellt. Und diese ist für Schularbeiten und schließlich auch für die Matura bitter notwendig.
(Zur Erinnerung: "Grundkompetenzen" sind AHS-Oberstufen-Beispiele, die grundlegende, mathematische Kompetenzen abfragen. Was in der Theorie praktisch, sinnvoll und einfach klingt, stellt sich in der Praxis als große Hürde dar. Ohne ein umfassendes 360-Grad-Verständnis für die Materie lassen sich Multiple Choice Beispiele nicht lösen. Da es quasi nur "richtig oder falsch" gibt, reicht ein "Ich kenn mich eh aus!" schon lange nicht mehr.)

Außenstehende würden nun argumentieren, dass sich die jungen Leute sich einfach hinsetzen und üben müssten. Das ist im Grunde richtig. Aber so schnell, wie du heute den Anschluss verlierst, wirst du beim Selber-Üben keine wirklichen Bäume ausreißen können. Dir fehlt als Schüler zum einen oft die Orientierung. Zum anderen kannst du gar nicht abschätzen, in welcher anderen, verdrehten oder kompliziert formulierten Form ein Beispiel bei der nächsten Schularbeit kommen könnte.

Kurzum: Den Lehrern und Lehrerinnen fehlt für einen umfassenden Unterricht einfach die Zeit, egal wie engagiert sie sein mögen. Das ist ein strukturelles Problem. Und hat anscheinend auch eine typisch österreichische Lösung: Der Nachhilfelehrer muss ja auch von etwas leben!

Selbstverantwortliches Training

Was wäre nun ein praktikabler Weg damit umzugehen? Eines ist klar: Nur wer viele Varianten von Beispielen zur selben Grundkompetenz übt, kann sich umfassend vorbereiten. Problematisch ist, dass das typische Schulbuch – während es die letzten zig Jahre lang völlig ausreichend war – einfach zu wenig Übungsmöglichkeiten bietet.

Seit mehreren Jahren gibt es nun von vielen Verlagen spezielle Grundkompetenzen-Übungsbände (entweder pro Schuljahr oder als Komplettversion Richtung Matura). Leider hat die große Masse meiner Schüler und Kunden davon noch nichts gehört. Ich halte es für eine Pflicht jedes Mathematiklehrers, den Schülern diese Möglichkeiten aufzuzeigen und sie dementsprechend zu informieren. Was soll denn schlimmsten Falles passieren? Ein paar Euro wurden hinausgeworfen und das Büchlein bleibt in der Schublade liegen. In allen anderen Fällen profitieren sowohl die Schüler, als auch die Lehrer davon.

Damit diese Art von selbstverantwortlichem Training ausgeübt werden kann, braucht es eine klare Informationsstrategie seitens der Schule. Ja, es gibt Schüler in meinem Institut, die ergänzende Übungsbücher besitzen, aber die sind klar in der Unterzahl. Der Rest kennt nur das Schulbuch.

Foto: istockphoto.com/de/portfolio/sturti

Unterstützungsfeindliches Schulsystem

Ich sehe es als meine Aufgabe, Schüler zu fördern und ihnen geeignetes Material zur Verfügung zu stellen beziehungsweise ihnen entsprechende Möglichkeiten aufzuzeigen. Lernen und üben müssen sie selber. Dieselben Maßstäbe müssten in der Schule auch gelten. Vor allem dann, wenn ich mir als Lehrer eingestehe, dass ich in den wenigen Mathematikstunden bloß einen Kompromiss aus Grundlagen und Vertiefung unterrichten kann - und ehrlicherweise weiß, dass nicht nur „Sehr gut“-Schüler in meiner Klasse sitzen.

Kleine Geschichte aus dem Nähkästchen: Aktuell begleite ich zwei Schüler, die im Jänner 2021 zum dritten Mal zur Mathematikmatura antreten werden. Spätestens hier wird sichtbar, dass sich mit Ende der 8. Klasse niemand mehr um die Kandidaten kümmert oder sich zuständig fühlt. Die typische Lehreraussage „Das müsst ihr euch noch einmal genauer anschauen!“ zeigt, wie weltfremd und unterstützungsfeindlich das Schulsystem ist, wenn Schüler wiederholt schriftlich als auch mündlich durchfallen. Es ist doch pervers, dass erst der Nachhilfelehrer als privat zu zahlender Dienstleister diverse Möglichkeiten aufzeigt.

Ich werde jetzt keine Werbung für Schulbuchverlage machen, aber Sie werden sehen, dass es in den österreichischen Buchgeschäften jede Menge gute Unterlagen zu erwerben gibt. Und darüber hinaus kann der Übungsband eines anderen Verlags genauso wertvolle Übungsmöglichkeiten beinhalten. Im schlimmsten Fall holen sich dort nämlich die Lehrer ihre Schularbeitenbeispiele. Zufälle gibt’s!
 
P.S. Aber Vorsicht! Es kann passieren, dass besonders engagierte Autoren super-spezielle Übungsbeispiele zu Grundkompetenzen „basteln“, die bei weitem über das Ziel hinausschießen. Genau dann ist der Lehrer gefragt, der Orientierung und Handhabbarkeit fördert und seinen Schülern die geeigneten und (vor allem) wichtigen Beispiele kommuniziert. (Rainer Saurugg, 10.12.2020)

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