Das Stachelschwein wurde im Frühjahr häufiger als sonst gesichtet.

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Na Guardis ist eigentlich nur ein flacher Fels mit etwas Gestrüpp darauf, im vergangenen Frühling jedoch wurde die Mini-Insel vor der Südküste Mallorcas zum Schauplatz einer kleinen Sensation. Dutzende seltene Korallenmöwen (Ichthyaetus audouinii) ließen sich auf dem Eiland nieder, bauten Nester und begannen zu brüten.

Die Tiere waren dort eigentlich verschwunden, wie der Biologe Giacomo Travecchia vom Forschungsinstitut Imedea in Esporles berichtet. Der Hintergrund: Na Guardis liegt 300 Meter vom Hauptufer entfernt und praktisch im Vorhof der Touristenhochburg Colonia de Sant Jòrdi. Paddler und Schwimmer hatten die Vögel vertrieben. Nun aber, während des Corona-Lockdowns, waren sie an ihren früheren Brutplatz zurückgekehrt.

Es gab weitere Meldungen dieser Art aus vielen Teilen der Erde. Plötzlich staksten Hirsche durch Vororte, Affen tanzten auf Straßen, und in einigen Häfen wurden auf einmal Delfine gesichtet. Die Natur kehrt zurück, hieß es in den Medien. Wo immer Sars-CoV-2 das öffentliche Leben lähmte, schien die Tierwelt aufzuatmen.

Effekt untersucht

Verschmutzung und Lärmbelastung nahmen derweil deutlich messbar ab. Fachleute fanden schnell einen neuen Begriff für diesen ungewöhnlichen Zustand: die Anthropause. Zum Teil würden ihre Auswirkungen überschätzt, sagt Raoul Manenti, Wissenschafter an der Universität Mailand.

Er und Kollegen haben den Lockdown-Effekt für Italien, das erste europäische Land mit radikalen Einschränkungen, untersucht. Die Ergebnisse zeigen ein komplexeres Bild, als mancher vermuten würde.

In den sozialen Netzwerken seien zum Beispiel vermehrt Fotos von Füchsen in Stadtgebieten aufgetaucht – an sich nichts Besonderes, betont Manenti. Auch die oft gezeigten Baumwollschwanzkaninchen in den Parks mehrerer italienischer Metropolen lebten dort schon länger. Solche Beobachtungen hätten keinen Neuigkeitswert.

"Es gab einfach mehr Menschen, die zu Hause aus ihren Fenstern schauten oder bei den erlaubten kurzen Spaziergängen Tiere sahen", meint der Forscher. Sogar die hafenbesuchenden Delfine seien bereits vor der Pandemie bekannt gewesen. Dank des verminderten Bootsverkehrs hätten sich die Meeressäuger näher an die Kaimauern herangetraut.

Nachtaktive Tierarten

Die Auswertungen der vielen Meldungen deckten allerdings auch tatsächliche Veränderungen auf. Vor allem nachtaktive Tierarten wie Wildschweine und das Stachelschwein (Hystrix cristata), welches in Italien recht weit verbreitet vorkommt, waren während des Lockdowns vermehrt tagsüber unterwegs. Die geringe menschliche Präsenz senkte ihre Scheu.

An einem normalerweise viel von Anglern und Wassersportlern genutzten See bei Mantua zeigten sich längst verschwundene Spezies – eine von ihnen der seltene Nachtreiher (Nycticorax nycticorax). Amphibien profitierten ebenfalls von den Ausgangsbeschränkungen. Während der Frühlingswanderungen fielen deutlich weniger Frösche und Kröten dem Straßenverkehr zum Opfer.

Auch den Insekten könnte die Anthropause gut bekommen sein. Raoul Manenti fand im vergangenen Sommer bei einer regelmäßig in der Nähe von Genua durchgeführte Monitoring-Untersuchung dreimal so viele Laufkäfer der Art Calosoma sycophanta, des Großen Puppenräubers.

Der Große Puppenräuber, ein Laufkäfer, kam in diesem Sommer dreimal so oft vor.
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"Vielleicht gab es ein besseres Nahrungsangebot", sagt Manenti. Die bis zu drei Zentimeter langen Käfer fressen Schmetterlingsraupen und deren Puppen.

Aus dem Vollen schöpfen

Einen ähnlichen Effekt scheint es bei Mauerseglern gegeben zu haben. Diese gerne in Städten nistenden Vögel legten in dieser Saison signifikant mehr Eier als in den vorangegangenen Jahren. Die übliche Luftverschmutzung verringert die Insektendichte, erklärt Manenti. 2020 jedoch konnten die Mauersegler aus dem Vollen schöpfen.

Die Bilanz ist nicht ungetrübt. In diversen Fällen bewirkte der Lockdown einen zeitweiligen Stopp von Schutzmaßnahmen oder schränkte die Arbeit von Rangern und Freiwilligen ein. Invasive Tier- und Pflanzenarten haben sich möglicherweise stärker ausgebreitet. Es gibt zudem deutliche Hinweise auf eine Zunahme illegaler Aktivitäten.

Die klandestine Jagd, berichtet Manenti, forderte vermutlich gerade bei Zugvögeln einen hohen Tribut. Inzwischen untersuchen Forschern auch in anderen Weltregionen die Auswirkungen der Anthropause. Was sie uns aber jetzt schon gibt, ist ein Eindruck davon, welchen Druck die Menschheit auf die Natur ausübt, schließt Manenti. (Kurt de Swaaf, 5.12.2020)