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Das Bekennerkapperl fliegt voraus: Die schädliche Wirkung der Trump-Politik auf US-amerikanische Institutionen wird sich als weniger flüchtig erweisen.

Foto: Reuters

'"Intellektuell widersprüchlich" war eines der Attribute, die Donald Trump im Wahlmarathon auf CNN wiederholt zugeschrieben wurden. Das mag wie ein Euphemismus klingen, trifft jedoch mit Lakonie ins Schwarze. Trump hatte zu einem Zeitpunkt ein Ende der Auszählungen gefordert, da er noch davon profitieren konnte. Unter den Tabubrüchen, für die der 45. US-Präsident in Erinnerung bleiben wird, war dies vielleicht einer der kleineren. Andererseits: Was ist schlimmer als ein Angriff auf den Wahlprozess selbst?

Bei Trump hat man die Qual der Wahl. Die "Stop the Steal"-Kampagne, die er seit Joe Bidens rechtmäßigen Sieg mit immer weniger Verbündeten fährt, provoziert noch einmal die Frage, die sich US-Intellektuelle seit 2017 stellen: Wie konnte es nur so weit kommen? Nun, zumindest was die Methodik der Trump-Lüge betrifft, gibt es mittlerweile gute Analysemittel.

Der gestohlene Wahlsieg? Testen Sie in fünf Schritten selbst: Zuerst erhebt man Anspruch auf etwas – je verwegener, desto besser; dann wird die Sache erhärtet, die Verantwortung dafür aber abgestritten (die "Jemand anderer sollte sich der Sache annehmen"-Phase). Im nächsten Schritt werden Beweise versprochen, die dann nie auftauchen, viertens werden Gegner der Lüge bezichtigt. Zuletzt erklärt man den Gewinn des Streits, egal wie die Beweislage ist. Gelingt immer.

Das Modell stammt aus Gaslighting America: Why We Love When Trump Lies to Us von der konservativen Autorin Amanda Carpenter. Es ist eines von rund 150 Bücher, die der Washington Post-Redakteur Carlos Lozada für seine "kurze intellektuelle Geschichte der Trump-Ära", What Were We Thinking (erschienen bei Simon & Schuster), gelesen hat.

Trump als Toddler

Sein Buch hat viele Vorteile: Zum einen erspart es einem die mühevolle Aufgabe, die Flut an Publikationen über Trump (selbst keine Leseratte!) zu überblicken. Zum anderen hat man einen Kritiker zur Hand, der die Spreu mit Witz vom Weizen trennt. Auch zeigt er blinde Flecken auf, die in der Analyse von Potus am rechten wie am linken Spektrum aufscheinen. Trumps Neigung zur Polarisierung hat auch bei seinen Interpreten Lust an der Übertreibung ausgelöst. Eines der komischsten heißt etwa The Toddler in Chief, der Politologe (!) Daniel W. Drezner beschreibt darin den Präsidenten als kleines Kind, das seine Impulse nicht unter Kontrolle hat.

Weniger kindlich als strategisch ausgefuchst darf Trumps Umgang mit der Wahrheit gelten, ein Grundzug seiner Amtszeit. Die Schuld bei den beweglicheren Wahrheitsmodellen postmoderner Denker zu suchen, wie das einige Autoren taten, wirkt auch auf Lozada wie ein Ausweichmanöver. Viel schlüssiger ist Russell Muirheads und Nancy L. Rosenblums Befund in A Lot of People Are Saying, dass seine Politik gar kein "pedantisches Verlangen nach Beweisen" mehr braucht.

Paranoide Muster

Trump benutzte paranoide Denkmuster – was in den USA Tradition hat –, diese fußen jedoch auf keinem verborgenen Wissen mehr, sondern auf sozialer Validierung – es müssen einfach genügend Leute daran glauben. "Bei Trump gibt es Verschwörung", schreibt Lozada lapidar, "aber keine Theorie mehr." Wahrheit verkommt mit der Zeit zum "Schulterzucken-Emoji". Selbst wenn es genügend Fakten gibt, bleibt die Lüge wirksam.

Soll die Demokratie genesen, dann muss sie, wie Yural Levin in ATime to Build schreibt, die beschädigten Institutionen wieder stärken. Klingt langweilig, ist aber wichtig: Denn diese "formen uns", sie verkörpern "unsere" Ideale des Handelns. Demokratische Standardverfahren zu erklären und zu verfolgen, die Mechanismen der Entscheidungsfindung transparent zu halten erscheint plötzlich revolutionär.

Der Kulturkrieg

Lassen sich damit jedoch auch gesellschaftliche Gräben überwinden? Lozada hat dafür keine griffige Antwort parat, so viel hat der Pulitzerpreisträger von den oft tendenziösen Büchern gelernt. Ausgiebig widmet er sich aber der Frage nach dem "Kulturkrieg", der zwischen den beiden Amerikas herrscht. Deren Abstand ist auch mit der Abwahl Trumps nicht kleiner geworden.

Bei der Frage, warum weiße Wähler, die sich im Stich gelassen fühlen, bei Trump ihr Heil suchen, hebt Lozada jene Autoren hervor, die "race" und Klasse nicht als alternative, sondern als einander bedingende Kategorien sehen. Essenzialistische Zugänge, die die Arbeiterklasse wie einen fernen Stamm beschreiben, verlieren den historischen Niedergang aus dem Blick, der schon unter Reagan Fahrt aufgenommen hatte.

Wie bei der Entfremdung der Heartland-Bewohner bewahrt Lozada auch auf dem Feld der Identitätspolitik Augenmaß. Autoren wie Mark Lilla oder Francis Fukuyama waren schnell in der Schuldbenennung: Die Dauerbeschäftigung mit Minderheitspolitik hätte zum Versagen der Linken geführt.

Für Lozada, der aus Peru stammt, sind solche Verkürzungen unzulässig. Charlottesville sei kein Resultat linker Identitätspolitik, Nationalismus kein Privileg der Trump-Ära. Identitätspolitik sei so notwendig wie vorübergehend, denn je breiter eine Identität Akzeptanz findet, desto weniger bestimmend wird sie. Was dieses Land braucht, denkt man am Ende der Lektüre, sind weniger Engführungen – und Menschen wie Lozada, die zwei Gedanken zugleich denken können. (Dominik Kamalzadeh, 2.12.2020)