Aumair beobachtete insbesondere in sozialen Medien eine "moralische Erhabenheit" gegenüber Menschen, die in den ersten Wochen der Corona-Krise "gehamstert" haben. Doch wer in Armut aufgewachsen ist, für den kann der Gedanke, dass es nächste Woche vielleicht keine Nudeln mehr geben wird, sehr belastend sein, sagt sie.

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Aumair: "Es wird noch immer so getan, als seien wir eine Leistungsgesellschaft, doch wir sind eine Erbgesellschaft."

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Es ist eine Reise, die in unserer Gesellschaft eigentlich nicht vorgesehen ist und auf der es zahllose sichtbare und unsichtbare Hürden gibt. "Klassenreise" nennen die Herausgeberinnen des gleichnamigen Buches diesen Weg, wenn Menschen aus nichtprivilegierten sozialen Schichten kommen und, wie es oft heißt, "aufgestiegen" sind. Die im Buch von Betina Aumair und dieStandard-Autorin Brigitte Theißl porträtierten "Klassenreisenden" erzählen von erlebtem Klassismus, also von Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft, und davon, was es bedeutet, seine Herkunftsklasse zu verlassen. Sie berichten von diffusen und direkten Abwertungen, etwa gegenüber ihrer unverheirateten, alleinerziehenden Mutter, oder darüber, wie man von der eigenen Familie skeptisch beäugt wird, weil, so scheint es, man sich von seiner Herkunft entfremdet hat.

STANDARD: Es fällt auf, dass vor allem die über Klassismus reden, die bereits unterprivilegierte Verhältnisse bis zu einem gewissen Grad hinter sich gelassen haben. Warum ist das so?

Aumair: Wenn man es sozusagen "geschafft" hat, erlaubt das einem, aus einer gesicherten Position heraus sprechen zu können. Man kann im Rückblick erzählen, das macht es wesentlich einfacher zu erzählen. Dabei ist allerdings wichtig zu beachten, dass auch in Arbeiter*innen- oder Armutsfamilien über Klasse und Klassenbenachteiligung gesprochen wird. Allerdings oft in einer anderen Sprache. Die Frage ist also, welche Sprache wird gehört. Ich tue mir inzwischen leichter, weil ich die akademische Sprache gelernt habe, die ja eine distanzierende und objektivierende ist. So kann ich in einer Sprache über Klassenverhältnisse sprechen, ohne meine Wunden herzeigen zu müssen. Aber mein Vater oder meine Schwester zum Beispiel müssen immer direkt auf ihre Erlebnisse und Erfahrungen Bezug nehmen, sie müssten viel eher ihre Wunden zeigen, um über Klasse reden zu können. Im Schweigen kann ganz viel Widerstand stecken, aber oft eben auch ganz viel Scham.

STANDARD: Den sozialen Aufstieg ermöglichen, das ist ein kollektives Ziel. Der soziale Aufstieg gilt als die Möglichkeit schlechthin, ein besseres Leben zu führen. Was bedeutet das für die, die diesen Aufstieg nicht machen?

Aumair: Aufsteiger*innengeschichten haftet oft eine Art Held*innenmythos an. Seht her, sie hat es ja geschafft, wenn eine es schafft, können alle es schaffen. Dem ist aber nicht so. Gerade Jugendliche, die sich in unserem Bildungssystem nicht so gut zurechtfinden und dieses auch verfrüht abbrechen, bekommen von der Gesellschaft vermittelt, sie seien selbst schuld, sie hätten sich nicht genug angestrengt. Diese Individualisierung und Privatisierung eines eigentlich gesellschaftspolitischen Versagens ist ein großes Problem.

STANDARD: Wo sehen Sie versteckten Klassismus und Diffamierung von Armut?

Aumair: In letzter Zeit ist mir besonders eine gewisse moralische Erhabenheit aufgefallen, vor allem in den sozialen Medien. Zum Beispiel als es am Beginn der Corona-Krise darum ging, dass Leute hamstern oder dass sich Leute vor dem Lockdown noch für Minus-50 Prozent-Schuhe anstellen. Wenn ich wenig Geld und die Chance auf gute Schuhe um die Hälfte habe, bin ich die Erste, die ansteht. Hier habe ich eine große Beschämung bemerkt. Für Menschen, die in Armut aufgewachsen sind, kann der Gedanke, dass es nächste Woche vielleicht kein Klopapier oder keine Nudeln mehr geben wird, starke psychische Belastungen hervorrufen. Auch wenn der Kontostand inzwischen etwas anderes sagt, das Gefühl von Armut verlässt einen nicht. Armut brennt sich in den Körper und in die Seele ein. Wer diese Erfahrung des "Zu wenig haben" kennt, bei dem kommt sie immer wieder auf.

STANDARD: Befördert ein bestimmter Leistungsdiskurs Klassismus?

Aumair: Der Mythus von Chancengleichheit ist noch immer stark präsent. In den Erzählungen im Buch und auch sonst zeigt sich, dass es vielfach einfach Glück ist, wenn man eine Klassenreise schafft. Etwa wenn mich ein Lehrer nicht in der ersten Klasse der Hauswirtschaftsschule gefragt hätte, ob ich nicht doch die fünfjährige HBLA versuchen will. Ich habe mich weder mehr angestrengt als meine Schwestern, noch bin ich klüger. Ich hatte einfach diesen einen glücklichen Zufall. Oder wenn eine Freundin ins Gymnasium geht und einen dann einfach mitzieht. Der herrschende Leistungsdiskurs vernachlässigt, dass Menschen nach wie vor auf solche Momente angewiesen sind, um auf das Gymnasium zu gehen, auf die Uni zu kommen. Es sind mehrheitlich nicht Momente einer individuellen Leistung oder Anstrengung. Es wird noch immer so getan, als seien wir eine Leistungsgesellschaft, doch wir sind eine Erbgesellschaft. Jede Position ist vererbt.

STANDARD: Sie meinen auch über die ökonomische Situation hinaus?

Aumair: Ja, auch die soziale Position. Wesentlich sind hier Netzwerke, wen man kennt. Ich habe lange gebraucht, bis ich verstanden habe, dass mir ein Studienabschluss allein nicht automatisch Vorteile bringt. Sondern dass ich mich auch darum hätte kümmern müssen, dass ich während meiner Studienzeit ein Netzwerk aufbaue. Positionen und gute Jobs bekommt man vielfach, wenn man die richtigen Leute kennt. Aber auch ein Netzwerk aufbauen ist nicht so leicht, das muss man können. Vermittelt wird aber, es gehe um Bildung, Bildung und Bildung. Und wenn man dann noch in der Naivität aufwächst, es käme tatsächlich darauf an, gute Noten zu haben, ist das nicht gerade hilfreich.

STANDARD: Die Geschichten in "Klassenreise" zeigen aber auch, dass bestimmte soziale Fähigkeiten besonders schwer zu erlernen sind, wenn man damit nicht aufgewachsen ist. Was sind genau die Schwierigkeiten?

Aumair: Erst mal ist das Wissen wichtig, dass das so etwas wie Netzwerke wichtig sind. Und man braucht auch den entsprechenden Habitus, das Reden und sich bewegen können in bestimmten Situationen und Kreisen. Das sind diese "feinen Unterschiede", von denen der Soziologe Pierre Bourdieu spricht. Bin ich mit Konsalik und Donauland aufgewachsen, oder habe ich von meinem Vater mit zehn Jahren schon die "Odyssee" von Homer vorgelesen bekommen. Ein anderes Beispiel: Wie wird man als Kind mit seinen Fragen ernst genommen? Werden sie geduldig beantwortet, oder hörst du "Frag nicht so deppert"? Oder wie laut du sprichst, das Laute wird als das Ungehobelte, ja gern der Arbeiter*innenklasse zugeschrieben. Das sind alles kleine Unterschiede, die eine immense Auswirkung haben und die innerhalb von Sekunden verraten können, woher du kommst.

Betina Aumair, Brigitte Theißl (Hg.): "Klassenreise. Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt". 19,19 Euro / 150 Seiten. ÖGB Verlag, Wien 2020
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STANDARD: Was sind Hürden beim "Aufstieg"?

Aumair: Das Gesamtbild an Möglichkeiten fehlt. Für Leute aus einer Akademiker*innenfamilie ist die Leiter des Aufstiegs sichtbar. Man weiß schon im Kindergarten, dass man einen akademischen Abschluss haben wird. Für Leute aus der Arbeiter*innenschicht ist nur, wenn überhaupt, eine Sprosse nach der anderen sichtbar. "Erst machst mal die Hauptschule, dann schauen wir weiter", so zeigt sich immer nur der mögliche nächste Schritt, aber es kommt nie zu einem Gesamtbild. Hinzu kommt, welche Berufsfelder beim Aufwachsen überhaupt präsent sind. Wenn in der Verwandtschaft niemand studiert hat, ist das als Szenario einfach nicht da. Oft kommt auch die Erzählung über Eltern aus der Arbeiter*innenschicht, dass es ihnen vorwiegend wichtig ist, dass es den Kindern gutgeht und dass immer eine Rückkehroption betont wird: Wenn es dem Kind auf dem Gymnasium nicht gutgeht, dann soll es halt wieder zurück an die Hauptschule. Es fehlt diese Perspektive des Durchbeißens. Einerseits ist es etwas sehr Schönes, wenn Kinder wissen, dass sie nicht gut in der Schule sein müssen, dass es auch so passt und die Hauptsache ist, dass es ihnen gutgeht. Auf der anderen Seite, hilft es sehr, wenn man sich nicht ständig infrage stellt, wenn man das Gymnasium einfach macht und sich nicht dauernd fragt "Schaffe ich das?", sondern wenn einfach klar: Logisch, schaff ich das. Das ist sicher von Vorteil, anstatt immer den Gedanken in sich zu tragen: Es ist nur ein Versuch, ich bin nur probeweise da. (Beate Hausbichler, 3.12.2020)