Es seien eher die Hände, die sich an Erntearbeit bei diesen Temperaturen gewöhnen müssten, meint Gärtnerin Marianne Ganger. Für die Pflanzen seien null Grad und weniger kein Problem, ganz im Widerspruch zu dem, was in der Fachliteratur geschrieben steht. Grünkohl, Sprossenbrokkoli und Zuckerhut gedeihen aktuell auf den Feldern der Gärtnerei Ganger im 22. Bezirk.

Selbstredend wird da kein Glashaus beheizt, vielmehr wurzelt der Großteil der Winterernte im freien Feld, ganz so, wie es die sommerlichen Verwandten des Winterfrischgemüses tun. Dass die 36-jährige Gärtnerin jetzt auch bei Minusgraden Gemüse erntet, hat sie ihrem ehemaligen Lehrer Wolfgang Palme zu verdanken.

Dieser forscht als Leiter der Abteilung Gemüsebau an der Höheren Bundeslehr- und Forschungsanstalt für Gartenbau. Als Hobby betreibt Palme seit neun Jahren die City Farm beim Wiener Augarten, alles mit dem übergeordneten Ziel, unsere Art, mit der Natur und ihren Früchten umzugehen, zu ändern. Denn vieles, was wir heute tun, hat kaum Zukunft, meint Palme.

Marianne Ganger baut Winterfrischgemüse im 22. Bezirk an.
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Energiebilanz

Lebensmittel, die in Europa die Strecke vom warmen Süden nach Norden zurückgelegt haben, oder Intensivglashausgemüse aus näherer Umgebung – das sei in der kalten Jahreszeit beides nicht ideal. "Deshalb freue ich mich über ungeheiztes Wintergemüse als einen dritten Weg, der eine regionale, nachhaltige Alternative bietet", sagt Palme.

Davon ist er schon seit Jahrzehnten überzeugt. Immer wieder steigt ihm die Erinnerung an jenes einschneidende Erlebnis an seiner Versuchsaußenstelle Zinsenhof vor 14 Jahren auf: "Damals hat uns der Wintereinbruch total überrascht. Minus zwanzig Grad über Nacht. Die kleinen Asiasalate hätten laut Fachliteratur tot sein müssen. Abgefroren. Aber sie waren es nicht."

Der Projektsamen

Das war der Anfang von Palmes Beschäftigung mit dem Wintergemüse. Testversuche in ganz Österreich, "man muss ja wissen, ob das nur bei uns oder auch woanders funktioniert", folgten. Zwei Bücher zum Thema und Fruchtfolge-Aufstellungen für 77 Arten und Sorten – es gab ja keine Literatur dazu, wann man denn Karotten für die Ernte im Winter aussäen soll – später kam mit heuer die LGV Sonnengemüse ins Spiel. Sie ist eine der größten Gemüsegenossenschaften des Landes unter der Leitung von Josef Peck.

Wolfgang Palme forscht seit Jahren mit Wintergemüse.
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Peck: "Ich kenne Palme und seine Winterfrischgemüse-Forschungen schon lange." Heuer sei die Zeit reif gewesen, um einen ersten Feldversuch zu starten. Sechs Gärtner, fünf in Wien und einer im Burgenland, darunter Marianne Ganger mit ihrer Gärtnerei in Aspern, erklärten sich bereit, für die LGV Sonnengemüse versuchsweise auch im Winter anzubauen.

Ganger: "Die erste Reaktion war: Schaffen wir das?" Denn die Betriebe sind ebenso wenig wie die Fachliteratur auf Erntearbeit im Winter ausgelegt. "Der Winter war traditionell unsere Zeit, um die Gärtnerei von Grund auf herzurichten und für die nächste Saison vorzubereiten." Das dürfte sich in Zukunft wohl ändern. Heuer wachsen auf 3000 Quadratmetern der insgesamt vier Hektar Anbaufläche der Familie Ganger Wintergemüse.

Vor dem winterlichen Zuckerhut wurzelten Jungzwiebel im Wiener Feld. Die Erde findet das super. "Erde möchte niemals nackt sein. Sie möchte bedeckt und belebt sein, das ist das Beste, was ihr passieren kann", sagt Ganger. Da kann ihr ehemaliger Lehrer nur zustimmen. "Wir haben uns nur nie gefragt, ob es möglich ist, dabei hat Anbau im Winter nur Vorteile für den Planeten und für uns", sagt Palme.

Für Rucola ...
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Ein klassischer Fall von "Haben wir immer so gemacht". Natürlich geht einer Ernte im Winter eine lange Erprobungszeit voraus. Palme: "Wenn man zu früh sät, ist das Gemüse zu früh fertig und überreif, bis der Winter da ist. Sät man zu spät, wird die Jungpflanze nicht erntefertig." Trotzdem sei es absurd, dass man heutzutage mehr Forschungsanstrengungen in Lebensmitteltechnologie und Settings im Labor mit Mundschutz und Petrischale stecke, als sich zu fragen, wie stark die eigentlichen Kräfte der Natur sind.

Tropfen mit Zukunftsvision

Im ersten Versuch haben die LGV Sonnengemüse und ihre sechs am Projekt beteiligten Mitgliedsbetriebe auf einer Gesamtfläche von 1,5 Hektar für eine voraussichtliche Erntemenge von 20 Tonnen Wintergemüse angebaut. Darunter befinden sich Sorten wie Kohl, Karotten, Radieschen, Pak Choi, Rucola und Radicchio sowie Kräuter wie Koriander oder Petersilie.

Nimmt man die Gesamtproduktionsmenge von Gemüse der LGV Sonnengemüse zum Vergleich, nämlich rund 45.000 Tonnen, ist das Winterfrischgemüse freilich ein Tropfen auf den heißen Stein. Aber mit einer großen Zukunftsmission. Die Idee stoße auf reges Interesse, beobachte man die ausgewählten Rewe-Märkte in Wien und Umgebung, denen jeweils ein Kistchen Winterfrischgemüse aus dem Versuch zur Verfügung gestellt wurde, sagt Peck, Geschäftsführer der LGV.

"Nehmen wir den Grünkohl als Beispiel: Diesen hatten wir im Prinzip so ausgelegt, dass wir ihn den ganzen Winter bis ins Frühjahr ernten können. Die Nachfrage ist aber so groß, dass wir wahrscheinlich schon mit kommender Woche alles abgeerntet haben." Und das nach einem Markteintritt am 16. November.

... oder Grünkohl sind Minustemperaturen kein Problem.
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Radieschen unter dem Weihnachtsbaum

Für Palme sind diese Neuigkeiten erfreulich. "Mit der City Farm versuchen wir Menschen für das Wachsen, Säen und Ernten, für die Natur zu begeistern", sagt Palme. So entsteht ein anderes Verständnis für Geschmack, Qualität und Saisonalität.

Und das Schöne daran ist, dass Saisonalität mit diesem Wintergemüseansatz in unseren Breitengraden nicht mehr nur auf Kraut und Rüben in kalten Zeiten beschränkt ist. Radieschen auf dem weihnachtlichen Festtisch und Karotten, die nicht im Plastiksackerl, sondern noch mit dem Grün daran in die Küche gelangen und dementsprechend schmecken.

Palme: "Wenn wir uns Zeit für Obst und Gemüse nehmen, vom Anbau bis zur Ernte und Zubereitung, wird der Genuss zum Abenteuer." Auch Gärtnerin Ganger sagt: "Durch die Kälte lagert das Gemüse mehr Zucker ein. Das merkt man deutlich." Knackige Kälte und knackiger Salat, ohne dass geheizte Glashäuser oder tausende Lkw-Kilometer mitmischen, das klingt jedenfalls nach einem Feldversuch auf fruchtbarem Boden. (Nina Wessely, RONDO, 10.12.2020)