Seit dem Lockdown hat man als Urban-Alleinlebende die einfachsten zwischenmenschlichen Verhaltensregeln verlernt.

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Wir leben in verwirrenden Zeiten. Seit dem Lockdown ist man seriensüchtig. Ständig verwechselt man Leute auf der Straße mit Charakteren aus Netflix – hält die Frau vor dem Bäcker für die labile Freundin vom Drogenboss Ferry (Undercover) und den Parkbetreuer für den PR-Chef aus dem Palast (The Crown).

Noch verwirrender wird es, wenn Mitmenschen auf einen zugehen: "Ich kann gerne für Sie mitkochen." – Ist die Ansage der neuen Nachbarin wirklich nur freundlich gemeint? Oder will sie mehr? Seit dem Lockdown, stellt man mit Erschrecken fest, hat man als Urban-Alleinlebende die einfachsten zwischenmenschlichen Verhaltensregeln verlernt.

Do you speak amore?

Auch mein Freund Rudi ist bemüht, Signale richtig zu deuten. Er arbeitet als Vertreter für Systemküchen. Nach seiner letzten Planungssitzung rief er alarmiert an: "SOS! Eben schickte mir der Assistent des Architekten eine knappe E-Mail mit dem kryptischen Schlusssatz: Wenn du mal Zeit hast, gerne auf einen Kaffee." – "Wo liegt das Problem?" – "Jetzt frage ich mich: War es pure Höflichkeit? Oder womöglich ein Zeichen?"

Eingehend beratschlagten wir alle Eventualitäten. Im Laufe des Telefonats wurde klar, dass Rudi, der nicht leicht zu begeistern war, den Herrn Assistenten ziemlich interessant fand. Es fielen Wort wie "geheimnisvoll", "sensibel" und "elegant".

Weil nichts leichter ist, als für andere den nächsten Schritt zu planen, sprach ich ein Machtwort: "Rudi, du lässt es am besten drauf ankommen. Fährst deine Firewall runter und gehst auf den Vorschlag ein. Sonst wirst du nie erfahren, ob eure Festplatten konvergieren."

Espresso mit Metaebene

Weit ist es mit uns gekommen. Ein längerer Blickkontakt, eine Kaffeeeinladung – schon tun sich Felsspalten voller Risiken und Konfliktmöglichkeiten auf. Haben das Internet und diverse Life-Coaches uns das echte Leben abgewöhnt? Einerseits ja.

Andererseits. Jeder, der unter strengen Eltern oder Internatserziehern heranwuchs, weiß: Nie wieder haben Zigaretten so viel Spaß gemacht als damals, als noch alles verboten war. Niemals wieder waren Küsse so intensiv. So gesehen sollte man jede Facette aktueller Ausgangssperren nutzen.

Und mit heißen Wangen das Unmögliche wagen: Man organisiert zwei Macchiato im Pappbecher. Setzt sich zusammen auf eine Parkbank. Vielleicht wird aus dem Setting bloß ein Kurzfilm. Vielleicht aber auch ein Hauptabendprogramm. (Ela Angerer, RONDO, 17.12.2020)