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In welchem Spital in Wien gibt es noch Platz? Das Wiener Intensivnetzwerk ist eine spontane Initiative von Medizinern, um Kranke zwischen verschiedenen Spitalsbetreibern zu transferieren. Ein Novum in der Krankenversorgung.

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Noch vor einer Woche hätte Christian Sitzwohl, Leiter der Abteilung für Intensivmedizin am St.-Josef-Krankenhaus in Wien, keine Sekunde Zeit gehabt. Seine Station war voll mit Schwerkranken, doch es galt, eine COPD-Patientin mit Atemnot aus dem Klinikum Hietzing zu übernehmen, weil es dort für sie keine Möglichkeit mehr für Beatmung, Sauerstoff und die nötige Pflege gab. Unvorhergesehen erlitt dann noch ein Mann aus dem eigenen Haus einen anaphylaktischen Schock – die Pflegemannschaft von Sitzwohl kam an ihre Grenzen.

Warum er die Patientin dann überhaupt übernommen hat? Weil die Kapazitäten in allen Krankenhäusern der Stadt Wien derzeit am Limit sind, aber doch niemand, der es dringend benötigt, unversorgt bleiben soll. "Alle sind am Anschlag", sagt Sitzwohl und meint damit nicht nur sämtliche Ordensspitäler der Vinzenz-Gruppe, zu denen seine Station zählt, sondern sämtliche Krankenhäuser in Wien.

Freie Betten gibt es nicht

Der Mediziner ärgert sich, wenn er von freien Bettenkapazitäten als Messlatte für die Pandemiebewältigung hört, und stellt klar: "Die Vorstellung, dass es irgendwo freie Intensivbetten gibt, ist grundfalsch." Denn: Freie Betten habe es schon vor der Pandemie immer nur sehr eingeschränkt gegeben.

Zur Klarstellung: Wenn im Rahmen der täglichen Corona-Statistik von Intensivbettenkapazität die Rede ist, dann bedeutet das, dass Intensivbetten, die normalerweise von Patienten mit anderen Erkrankungen belegt sind, für Covid-Patienten freigeräumt wurden. Wenn das passiert, heißt das, dass Leute mit anderen Erkrankungen weniger gut betreut werden. Weniger gut kann sein, dass nicht lebensnotwendige Eingriffe verschoben werden, es kann aber auch heißen, dass Patienten auf andere, weniger spezialisierte Stationen verlegt werden und damit der hohe medizinische Versorgungsstandard gemindert ist.

Viele andere Erkrankungen

In Wien gibt es auch in normalen Jahren viele Kranke. 2019 wurden in den Krankenhäusern des Wiener Gesundheitsverbunds 288.000 Patienten stationär versorgt, in den sieben Wiener Ordensspitälern 130.000, davon 79.204 in den Häusern der Vinzenz-Gruppe. Das sind 418.000 Krankenakte. Durch die Grundannahme, dass es ähnlich viele Kranke auch 2020 gibt, war dem Intensivmediziner Sitzwohl klar, dass es aufgrund der Corona-Pandemie zu massiven Engpässen in allen Bereichen der Spitalsversorgung kommen würde.

Weil Intensivmediziner sich untereinander kennen, hat Sitzwohl daher zusammen mit seinem Kollegen Stephan Kettner, Leiter der Intensivmedizin in Hietzing, das sogenannte Wiener Intensivnetzwerk gegründet. Von Anfang dabei waren auch der Intensivmediziner Georg Hinterholzer und die Internistin Sabine Schmaldienst von der ersten Medizinischen Abteilung im Klinikum Favoriten, jenem Spital, in dem seit Beginn der Pandemie die meisten Covid-Patienten versorgt werden. Das Ziel des Netzwerks sollte sein: sich über die Spitalsgrenzen hinweg auszutauschen und, wenn es dazu kommen würde, auch gegenseitig zu helfen. Jeden Donnerstag um 14 Uhr trifft man sich zum Update per Videokonferenz.

Hilfe in der Not

"Anfangs waren wir eine kleine Gruppe Intensivmediziner, mittlerweile sind fast alle Spitäler in Wien mit dabei, und längst auch die Stationen, auf denen Normalpatienten betreut werden", sagt Hinterholzer und spricht einen Schulterschluss zwischen den Krankenhäusern der Stadt Wien und den Ordensspitälern der Vinzenz-Gruppe an, den es in dieser Form noch nie gab. In jedem Videotreffen werden die aktuellen Infektionszahlen besprochen und die Anforderungen für die nächsten Tage diskutiert. In den letzten Wochen war vor allem zu hören: "Wir sind voll, kann jemand übernehmen?", doch irgendjemand im Netzwerk fand sich noch immer, der dann sagte: "Okay, machen wir."

Zu Beginn war die Devise: Die Ordensspitäler übernehmen vor allem Nicht-Covid-Patienten auf ihre Intensivstationen, etwa die COPD-Patientin, die aus dem Klinikum Hietzing ins St.-Josef-Krankenhaus gebracht wurde, konnte auf diese Weise versorgt werden. Mittlerweile sind durch den Eskalationsplan des Wigev die meisten Ordensspitäler aber auch in die Versorgung der Covid-Patienten sowohl im Intensiv- als auch im Normalstationbereich eingebunden.

Covid und Non-Covid

Warum die Not groß ist, ist schnell erklärt. Um Infektionsrisiken zu vermeiden, müssen Covid- und Nicht-Covid-Patienten räumlich getrennt sein. In beiden Gruppen gibt es jeweils Patienten, die intensivmedizinische Betreuung brauchen, und solche, die in Normalstationen versorgt werden können. Die Pflege von Covid-Kranken ist aufgrund des ständigen An- und Ausziehens der Schutzkleidung extrem zeitintensiv und für die Teams des Gesundheitspersonals anstrengend. Doch eine Alternative gibt es nicht.

"Wir widmen laufend Betten um, verschieben Ressourcen und damit auch Kranke", beschreibt es Sabine Schmaldienst, Leiterin der 1. Medizinischen Abteilung, einer von zwei Covid-Abteilungen im Klinikum Favoriten. Auf Basis des Notfallplans im Wiener Gesundheitsverbund wird ständig auf eine sich dynamisch ändernde Situation reagiert. Die aktuell größte Herausforderung ist es geworden, auch die vielen anderen Menschen mit durchaus ebenfalls schweren Erkrankungen behandeln zu können. Also all jene, die mit hunderten unterschiedlichen Beschwerden wie Herzproblemen, Schlaganfällen oder Schmerzen aller Art kommen – und für die es aufgrund der Umwidmungen kaum noch Platz gibt. "Das Netzwerk ist extrem hilfreich, weil ich weiß, dass dadurch die Chance, einen Patienten woanders unterzubringen, bisher extrem hoch war", sagt sie.

Dynamische Situation

Einen Engpass an Spitalsbetten, sagt Sitzwohl, könnten sich Laien in etwa so vorstellen: Ein Gefäß nach dem anderen läuft über, doch bislang habe es durch das Netzwerk dann eben doch immer noch irgendwo ein Auffangbecken gegeben. "Wir könnten knapp über den Berg sein", sagen Sitzwohl und Schmaldienst mit Blick auf die momentan fallenden Infektionszahlen, aus denen sie ablesen, dass der Zustrom an Covid-Kranken abnehmen könnte. Allerdings: "In den letzten Tagen gab es Anfragen aus den Bundesländern, denn dort ist die Situation nach wie vor dramatisch", sagt Intensivmediziner Hinterholzer.

Die Intensivbettenkapazität als Benchmark in der Corona-Pandemie ist auch für den Mathematiker Niki Popper vom Zentrum für Computational Complex Systems an der TU Wien durchaus schwierig zu berechnen. "Ich würde mir nie anmaßen, die Belastung in den Spitälern einzuschätzen, wir brauchen Werte für diese Ressourcen", sagt er und spricht damit ein ungelöstes Problem an. Intensivmediziner wie Christian Sitzwohl fürchten, dass – wenn die Krise wieder vorbei ist – es mit dem Abbau der Krankenbetten weitergehen könnte.

Denn das war die Stoßrichtung in den letzten Jahren. Das größte Problem für alle Mediziner wäre es, wenn eines Tages Schwerkranke abgewiesen werden müssten, sagt er. Und weiter: Noch ist die Pandemie nicht vorbei. Die Intensivbetten werden ein Messwert für die Belastungsgrenze bleiben, die schnell auch wieder ausgereizt sein könnte. (Karin Pollack, 3.12.2020, Update: 4.12.2020)