Der Blick auf die nackten Zahlen legt ein eindeutiges Urteil nahe: Die Regierung handelt mit der nun angebahnten Lockerung des Lockdowns unverantwortlich. Über eine Woche gerechnet liegt die Quote der Infizierten immer noch dreimal über dem Topwert der ersten Welle. Die Auslastung der Intensivstationen verharrt auf Rekordniveau, die Zahl der täglichen Todesfälle erreichte erst am Dienstag einen traurigen Höhepunkt. Trotzdem geben ÖVP und Grüne den Startschuss für die vorweihnachtliche Shoppingtour.

Riskiert die Regierung um des Profits willen also noch mehr Tote? So simpel ist die Sache nicht. Auch am wirtschaftlichen Gedeih hängen Schicksale. Schließtage für die Geschäfte etwa gefährden abertausende Jobs, die durch staatliche Hilfspakete auf Dauer nicht zu retten sind. Dabei ist zu bedenken: Sozialer Absturz kann das Leben auf lange Sicht ebenso verkürzen wie ein Virus.

Die Gastronomie bleibt weiterhin geschlossen.
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Diese Gratwanderung führt die Regierung direkt in ihre Wickelwackelpolitik. Restriktionen, die sie eben zögerlich eingeführt haben, nehmen Kanzler und Co wieder zizerlweis zurück. Die Logik dahinter erschließt sich nur zum Teil, nicht jeder Schritt wirkt wohlüberlegt.

So hat das Gesundheitsministerium die Ausgangsbeschränkungen erst vor einer Woche nachgeschärft, damit ja die strengstmögliche Auslegung zu tragen kommt. Doch nun lockern die Koalitionäre die lästigen, aber wirtschaftlich eher unschädlichen Regeln schon wieder und vergrößern das Risiko ausgerechnet dort, wo bereits bisher die meisten Cluster verbucht wurden: in den eigenen vier Wänden der Bürger. Die Appelle, dass man sich zwar treffen dürfe, aber nicht müsse, sind bestenfalls gutgemeint. Die Erfahrung zeigt, dass Limits hierzulande ausgereizt werden.

Gleichbehandlung

Etwas mehr Lockerung hätte sich der Gleichbehandlung halber dafür an anderer Stelle angeboten. Es wirkt nicht schlüssig, dass zwar Handel und Dienstleistungen à la Friseur und Nagelstudio aufsperren dürfen, die Gastronomie am Tag aber geschlossen bleibt. Der Betrieb eines Cafés ist wohl kaum schwieriger in geordnete Bahnen zu lenken als die Schnäppchenjagd am Wühltisch.

Anders ist die Situation in Skihütten gelagert, wo Hemmungen alkoholbedingt schon bei Tageslicht fallen. Skifahren ja, Einkehrschwung nein ist ein einleuchtender Kompromiss. Angesichts des vermutlich überschaubaren Andrangs sollte es keine Hexerei sein, den Zugang zu den Gondelkabinen zu staffeln.

Auch neue Verschärfungen setzt es. Die für Weihnachten geplanten Einreisebeschränkungen treffen Bürger mit Migrationshintergrund hart, die mit ihren Familien feiern möchten – zumindest auf dem Papier. In der Praxis stellt sich die Frage, wer Reisende registriert, damit die gebotene Quarantäne eingehalten wird. Ein ähnlicher Versuch im Sommer endete im Chaos – und Teststationen an den Grenzen, um für Klarheit zu sorgen, wurden seither nicht aufgebaut.

Die fehlende Planung ist symptomatisch. Sähe Kanzler Sebastian Kurz in Massentests wirklich einen Königsweg und nicht bloß ein PR-Manöver zur Ablenkung vom Lockdown-Frust, dann hätte er das Projekt schon vor Wochen aufsetzen können. Ähnliches gilt für das Contact-Tracing, das die Bundesländer lange vernachlässigt haben. Mit sprunghafter Politik hecheln die Regierungen von Bund und Ländern nicht nur den Infektionszahlen hinterher, sondern auch eigenen Versäumnissen. (Gerald John, 2.12.2020)