Georg Gräwe (fallweise auch "Graewe" geschrieben) verquickt Erkenntnisse der Neuen Musik mit der Vitalität des Jazz: ein Rufer im Wald postmoderner Beliebigkeit.

Foto: Heribert Corn

Der Sache des Fortschritts erteilte bereits Johann Nestroy, als scharfzüngiger Satiriker alles andere als ein Reaktionär, nur widerstrebend seine Zustimmung. Lieber noch erklärte der Possendichter das Vorankommen in Menschheitsfragen zu einem Problem des Ungenügens. Er, der Fortschritt, habe es, nörgelte Nestroy, "überhaupt an sich, dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist."

Der deutsche Jazzkomponist Georg Gräwe (64), selbst ein geschworener Parteigänger des Fortschritts in der Musik, würde sich mit einer Politik der Trippelschritte womöglich zufriedengeben. Nur bedarf letztere einer entscheidenden Ergänzung durch eine Robert-Musil-Definition: "Die vollkommene Ordnung", konstatierte dieser einmal, "wäre das Ende jeglichen Fortschritts und Vergnügens."

Beide Wörter hat Gräwe, als gebürtiger Bochumer seit Jahren in Wien ansässig, auf seiner neuen Platte (von Georg Graewe & Sonic Fiction Orchestra, bei Random Acoustics) zueinander in Relation gesetzt. Auf "Fortschritt und Vergnügen" (Titel) tönt es erstaunlich aufgeräumt. Ein elfköpfiges Ensemble bewegt sich katzenhaft gewandt (das macht 44 Pfoten!) über das unübersichtliche Feld der Musikmoderne. In Gräwes Musiklabor – er selbst traktiert u.a. Klavier und Cembalo – geht es zu wie in der Wechselbadeanstalt. Auf Cembalo-Attacken folgt weißes Rauschen. Ein einsamer Sopranton steht funkelnd im Raum, Klarinette und Fagott komplimentieren einander anschließend hinaus ins Unvorhersehbare, Offene.

14 Jahre Sonic Fiction Orchestra (u.a. mit Fagottistin Maria Gstättner und Asja Valcic am Cello) erscheinen in 70 Minuten glorios zusammengefasst. Die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts werden gleichsam in Kristallform dargeboten. Spiegelungen und Symmetrien lassen an Anton Webern denken. Im nächsten Augenblick wähnt man sich nahe Canterbury zu Gast, wo die Prog-Jazzer Soft Machine im Unterholz musizieren. Alles ist möglich bei Gräwe, nichts wirkt jemals beliebig.

Schon gar nichts überlässt der Spiritus rector dem Zufall: "Das SFO ist mein Orchester, das meine Kompositionen aufführt, kein Kollektiv. Alle künstlerischen und organisatorischen Entscheidungen liegen bei mir, das ist der strukturelle Rahmen. Meine musikalischen Mitwesen müssen allerdings Persönlichkeiten sein, nicht austauschbar, nicht schwarmorientiert, die selbstverständlich Musik nicht nur lesen, sondern auch interpretieren und improvisieren können."

Fortschritt? Ist machbar. Gräwe hat aufgrund seiner Arbeit mit dem "Grubenklang Orchester" ausreichend Erfahrung gesammelt mit linker Progressivität. Er hält viel von Hanns Eisler und Bertolt Brecht; von ihrer Einsicht, dass die Auffassung der Weltverhältnisse unbedingt mit Genuss verbunden sei: "Bei Brecht, und nicht nur bei ihm, gibt es ja eine Sinnlichkeit des Denkens, Erkenntnis und erotisches Vergnügen gehören zusammen. Das hat die europäische Linke in ihren besten Momenten dann auch beherzigt." Gräwe lacht: "Lang ist's her."

Fortschritt in Verruf

Heute moniert er eine Art Rollback: "Mit dem Aufkommen der Postmoderne, eine ziemlich reaktionäre Veranstaltung, gerät der Fortschritt in Verruf, und seit einiger Zeit offenbar auch das ,Vergnügen‘ – überall dort, wo Ästhetik durch Gesinnungsmoralismus ersetzt wird."

Die Hausgötter des Pianisten Gräwe seien noch benannt ("eher ältere Kollegen, Vorbilder, keine Hausgötter"): Alexander von Schlippenbach, Fred van Hove, Keith Tippet. Auch über Wilhelm Backhaus gerät Gräwe heftig ins Schwärmen.

Jetzt hofft der umtriebige Freejazzer, ab Februar die pandemiebedingt entfallenen Konzerte des SFO nachholen zu können: "Finanziell komme ich durch heuer, aber nächstes Jahr kann's bedrohlich werden." Derweil wird unverdrossen weitergemacht, zurzeit kompositorisch. Präzision sei dabei unerlässlich: "Genauigkeit ist, wie Stringenz, auf der Makroebene ebenso wichtig wie im Detail. Man lernt das auch bei Godard, um ein mir leuchtendes Beispiel zu nennen." (Ronald Pohl, 4.12.2020)