Josef Oberneder, Vizerektor der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich, schreibt in seinem Gastbeitrag über die komplexe Situation, in der wir derzeit leben, und den Ruf nach "einfachen Antworten".

Die aktuellen Ereignisse im Jahr 2020 rund um eine alles dominierende Corona-Pandemie zeigen einmal mehr, wie gesellschaftliche Komplexität in einer modernen Gesellschaft zugenommen hat. Je komplexer die gesellschaftlichen Verhältnisse und Umstände werden, desto lauter wird – in nachvollziehbarer und gleichzeitig paradoxer Weise – der Ruf nach "einfachen Antworten" und desto stärker ausgeprägt scheint die "Sehnsucht nach Klarheit" in der Bevölkerung zu sein. Diese Sehnsucht wird von den Medien bedient, eloquent mit Metaphern untermauert, die wir bis dahin nicht kannten.

Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) bei ihrer letzten Pressekonferenz. Man darf sicher sein: Es folgen demnächst weitere.
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Man hört vom "Licht am Ende des Tunnels" und von Ampelfarben. Die Analysen zur Ausbreitung des Virus werden mit einem Tiger verglichen, der im Hinterhalt auf der Lauer sitzt und zuschlägt. Oder mit dem Auto kommt. Es kommt zu einer Trivialisierung der Sprache, um die Mobilisierung in der Bevölkerung für das Außergewöhnliche zu erreichen. Die Boulevardmedien veröffentlichen wöchentlich die Beliebtheitswerte der Regierung und der Opposition. Die politische Rhetorik ist getrieben vom Wunsch, möglichst wenig Wähler zu verlieren.

Wir haben es also in dieser Zeit mit einer Situation zu tun, die hochgradig komplex ist und in der eine Orientierung – auch fachlich – schwierig bis unmöglich ist, aber gleichzeitig der Politik einfache Antworten abverlangt. Leben wir in einem "Land of confusion", wie es die Rockband Genesis im Jahr 1986 formuliert hat? "There’s too many men, too many people making too many problems ...", lautete der Befund, verbunden mit der Sehnsucht: "Oh Superman, where are you now, when everything’s gone wrong somehow?"

Erlöser gesucht?

Ruft man nun nach einem "Erlöser" aus dem Chaos der Konfusion? Sehnt man sich nach Klarheit und Einfachheit? Oder befinden wir uns in einem paradoxen Zustand zwischen Komplexität und Einfachheit? Angesichts dieser Situation erinnert man sich gerne an den prominenten Soziologen Niklas Luhmann, der festgehalten hat: "Die Letztfundierung in einem Paradox gilt als eines der zentralen Merkmale postmodernen Denkens. Die Paradoxie ist die Orthodoxie unserer Zeit." Und wie wir sehen, kommen wir gerade in Zeiten wie diesen nicht umhin, mit dieser Paradoxie zu leben.

Die Politik ist also gefordert in Zeiten einer Pandemiebekämpfung. Ein Blick auf die Berichterstattung lässt aber vermuten, dass uns nach wie vor Zerrissenheit vorgeführt wird. Einzelne Bundesländer fühlen sich von wichtigen Informationen ausgeschlossen. Regierung gegen Opposition – das alte Spiel. Das Krisenmanagement stottert. Ablenkungsmanöver mit schnellen neuen Interventionen (etwa Massentests) werden zum politischen Alltag.

Komplexe Situation

Dabei müsste die Politik doch nur zur Kenntnis nehmen, dass ihre wichtigste Aufgabe darin besteht, alles zu unternehmen, um für diese komplexe Situation jene Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Gefahr nicht größer werden lässt und damit Sicherheit in der Bevölkerung schafft. Ein nationaler Schulterschluss quer über alle ideologischen Gräben.

Mitunter könnte man sogar den Eindruck bekommen, dass die Politik nicht das Virus als Gegner bekämpft, sondern dessen "Schatten", damit sind die politischen Mitbewerber gemeint. Wenn man so will, könnte man weiter ausführen, dass die Politik der augenblicklichen Komplexität mit einer angemessenen Würdigung begegnen müsste. Diese Würdigung würde dann zum Ausdruck kommen, wenn man in Anlehnung an den britischen Psychiater Ross Ashby eingestehen würde, dass bei komplexen Situationen eine grundsätzliche Überforderung der Akteure vorliegt. Die Lösung aber nicht in einer Verdoppelung der Bemühungen liegt (oder in der Bekämpfung des Gegners), sondern vielmehr in der Fähigkeit, Selbstorganisation und Eigenverantwortung in der Bevölkerung zu fördern.

Appelle an Werte

Die diesbezüglichen Appelle an die Werte der Bürgerinnen und Bürger könnten sein: gemeinsames verantwortungsvolles Handeln, Solidarität, Rücksichtnahme, Toleranz. Sich auf diese Werte zu verständigen ist nicht problematisch, zumal kaum jemand ernsthaft in Krisenzeiten fordern würde, rücksichtlos oder intolerant zu handeln. Sie aber in die alltägliche Praxis zu implementieren und in Zeiten der Pandemie wirksam zu machen ist sehr wohl herausfordernd. Zweifelsohne ist dies mit einem Risiko behaftet.

Hat doch der deutsche Soziologe Dirk Baecker unlängst so treffend formuliert, dass die Bevölkerung intelligent genug ist, um Klopapier zu kaufen, wenn andere es auch tun, oder aber etwa gebildet genug ist, um exponentielles Wachstum zu verstehen. Die Einschätzung, ob ein hinreichender Bildungsgrad in der Bevölkerung vorhanden ist, um die Konsequenzen des eigenen Verhaltens einschätzen zu können, sei schwierig.

Empathisch Handeln

Fest steht: Der Wunsch und die Sehnsucht der Bevölkerung nach einfachen Antworten darf nicht den Strategien des Populismus und des Paternalismus zum Opfer fallen. Das Risiko wird nicht durch PR-Show und durch Ankündigungen von Ankündigungen minimiert. Weder die stereotypen Pressekonferenzen noch die dutzenden Inserate werden den Erfolg bringen.

Es braucht konsequentes Krisenmanagement und empathisches Handeln. Vielleicht könnte man sich in Anlehnung an die Organisationsforscher Karl Weick und Kathleen Sutcliffe an den Merkmalen orientieren, die Organisationen im Umgang mit unvorhergesehen Ereignissen auszeichnen. Sie richten ihre Aufmerksamkeit eher auf ihre Fehler als auf ihre Erfolge. Sie meiden vereinfachende Interpretationen und haben einen Blick für das Ganze und entwickeln die entsprechenden Abläufe. Und schließlich streben sie nach äußerster Flexibilität und schätzen das einschlägige Fachwissen und Können der Expertinnen und Experten. Die Politik funktioniert anders, kann man einwenden.

Aber: Das Einfache wird jedenfalls nicht die Antwort auf diese Herausforderung sein. (Josef Oberneder, 4.12.2020)